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Literaturhaus Heilbronn
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Begegnung mit dem Vollrausch

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Wer die Deutungshoheit über ein gelungenes Leben hat? Inga Machel aus Berlin liest im Literaturhaus Heilbronn aus ihrem beklemmend dichten Berlin-Roman "Auf den Gleisen". Ein Gespräch über Sehnsucht, Gewalt, Sucht und Poesie.

„Ich dachte, ich müsste jemanden umbringen“: Inga Machel liest im Literaturhaus aus ihrem viel gerühmten Debütroman „Auf den Gleisen“.
„Ich dachte, ich müsste jemanden umbringen“: Inga Machel liest im Literaturhaus aus ihrem viel gerühmten Debütroman „Auf den Gleisen“.  Foto: Laura Pütz

Wie eine Autorin zu ihrem Stoff kommt, will einer nach der Lesung wissen am schwülheißen Sonntagnachmittag im Literaturhaus Heilbronn. Die immer gern gestellte Frage überhaupt an Schreibende. Inga Machel antwortet konzentriert und entwaffnend offen, wie die Schiftstellerin aus Berlin überhaupt konzentriert dasitzt, liest und im Gespräch mit Literaturhauschef Anton Knittel die Figuren ihres Romans „Auf den Gleisen“ reflektiert.

Der Debütroman der 38-Jährigen wurde im Frühjahr gleich für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erzählt von einem Sohn, der nach dem Suizid seines Vaters fast auch sich selbst verliert und von anderen Menschen am Rande der Gesellschaft. Eine Art Berlinroman voller Tristesse, aber auch Poesie. Ein Text über Traumata, über die Sehnsucht nach und die Unfähigkeit zu Nähe, über Sucht, ja übers Saufen, über die Suche nach Familie: erzählt in einem filmisch-dichten, gänzlich unaufgeregten Reportagestil, immer wieder gebrochen von den inneren Monologen des Ich-Erzählers Mario und fiktiven Dialogen mit dem abwesenden Vater. Dieser Wechsel ist es, der dem Roman seinen soghaften Rhythmus verleiht.

Der Verlust eines Menschen und das Gefühl, ihm wieder zu begegnen

Wie nun ist Inga Machel zu ihrem Plot gekommen, der eine Kindheit und Jugend in einer zerrütteten Familie in Brandenburg schildert und eine zerrüttete Gesellschaft in Berlin zeichnet, wo Machel seit vielen Jahren lebt? Ausgehend von dem Phänomen, dass der Verlust eines Menschen das Gefühl provozieren kann, dieser Person danach immer wieder zu begegnen, hat die Autorin beim Schreiben untersucht, wie lange dieses Spiel funktioniert: das Spiel mit vermeintlichen Begegnungen.

Der andere Auslöser für den Roman hat eine gesellschaftspolitische Dimension: Wer hat die Deutungshoheit darüber, wann ein Leben gelungen ist? Inga Machel, Jahrgang 1986, war nach dem Studium der Fächer Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus  Rundfunkautorin und Lektorin. Und sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, was ihren Blick auf Menschen schärfen dürfte. Dass sie aus ihr bekannten Lebenssituationen schöpft, bekennt Machel, dazu komme dann aber auch die Fiktion.

"Ich dachte, ich müsste jemanden umbringen"

In drei Blöcken liest die Autorin, beginnt mit dem ersten Satz, der die Drastik des Romans vorgibt, der auf 155 Seiten (Rowohlt Verlag, 22 Euro) auch poetische Momente birgt  – literarisch souverän geschnitten wie ein Memoir, das als Roadmovie daherkommt. „Ich dachte, ich müsste jemanden umbringen. Als würde der Tod meines Vaters unausweichlich einen Gegentod erfordern. Eine Gegenleiche. Wie im Alten Testament. Nicht, weil ich an sowas wie Gerechtigkeit glaubte. (...) Aber in mir war diese  schmerzhafte Ansammlung, diese Zusammenrottung von Gewalt, die jeglichen Friede ausgelöscht hatte ... .“

Anhand von Fotos, die der Ich-Erzähler findet, erfolgt eine schmerzliche, emotionale Spurensuche. Dass es „für den Vater eine Zeit ohne mich gab“, haut den längst erwachsenen Sohn beim Anblick der Jugendfotos dieses Vaters um. Zeit seines Lebens hat sich Mario von ihm nicht wirklich verstanden gefühlt, hat um seine Liebe gebuhlt, sich mit ihm gestritten, nie eine Umarmung gespürt. Als sich der Vater auf die dem Roman seinen Titel gebenden Gleise legt, ist es zu spät. Die Mutter? Ein sogenannter Totalausfall.

Auf den Spuren eines Alt-Junkies durch Berlin

Es folgen Marios Begegnung mit dem Vollrausch – und mit P. Einer Person, die er wohl zufällig trifft, in der Mario meint, seinen Vater zu erkennen, aber auch seine eigenen Umrisse. Zuerst scheinbar planlos, dann obsessiv folgt Mario dem Alt-Junkie P. durch Berlin, meist auf der Ringbahn. Schonungslos schildert Machel durch Marios Augen die Trinker- und Fixerszene, die sich Halt gibt, wie eine Familie, aber auch verrät. Assoziationen mit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Christiane F. drängen sich auf.

Das Phänomen Systemsprenger spricht Inga Machel an. Und was es damit auf sich hat, sich an eine Person zu klammern wie an einen rettenden Strohhalm. Dass keine Beziehung auskommt ohne Spiegelung, sagt sie. Und warum sie es als Happy End versteht, dass Mario weiter leben kann und wird.

Nicht drastisch genug?

Wenn Inga Machel heute durch Berlin streift oder wie jüngst in Hamburg ist, kommt es ihr vor, als habe sie das alles in „Auf den Gleisen“ nicht „drastisch genug“ beschrieben. In der Tat erzählt  Mario im Roman aus einer gewissen Distanz. Die macht es dem Leser möglich, ebenso eine gewisse Distanz zu wahren.

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