Dead Centre: 2012 gründete sich das britisch-irische Theaterkollektiv Dead Centre um das Regie- und Autorenduo Ben Kidd und Bush Moukarzel. Seither realisieren sie international Theaterprojekte in Dublin, Göteborg, Wien, anderen Städten Europas, in den USA, Hongkong, China, Australien. Zwischen Fakten und Fiktion sind oft historische Figuren oder Ereignisse Ausgangpunkt ihrer Inszenierungen mit multimedialen Mitteln.
Alles verlorene Seelen oder was?
Die Uraufführung „Die Erziehung des Rudolf Steiner“ als multimediales Theaterexperiment verhandelt kritisch die Ambivalenzen des Begründers der Waldorfschulen - und „Frau Yamamoto ist noch da“ blickt in Short Cuts auf einsame Menschen.

Dass im Südwesten die Visionen des Reformpädagogen Rudolf Steiner auf so fruchtbaren Boden fallen, hängt sicher auch damit zusammen, dass die erste Waldorfschule in Stuttgart gegründet wurde. 1919 auf der Uhlandshöhe, von dem Stuttgarter Unternehmer Emil Molt.
Der Inhaber der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, begeistert von Steiners Vorträgen, wollte eine freie Schule für die Kinder seiner Arbeiter. Die Faszination für die von Steiner begründete Anthroposophie scheint ungebrochen, aber auch die Kritik. Antisemitisch, autoritär, rassistisch, esoterisch, irrational sei seine Heilslehre, so der Vorwurf, während andere sich für die Idee von Erziehung begeistern, bei der Fantasie und Kreativität des Kindes gefördert werden sollen. So weit und verkürzt die gängige Vorstellung.
Ein Kinderdarsteller mit verblüffender Chuzpe
Als Auftragsarbeit für das Stuttgarter Schauspiel hat das britisch-irische Theaterduo Dead Centre, Ben Kidd und Bush Moukarzel, „Die Erziehung des Rudolf Steiner“ geschrieben und inszeniert. Eine Art Theaterexperiment und Vexierspiel, das Steiners Lehre an der realen Gegenwart bricht, seine Biografie mit einer heutigen Familiengeschichte kurzschließt – und das ästhetisch und technisch genial löst mit einerseits materiellen Spiegelungen auf der Bühne. Und mit spirituellen, ganz im Geiste Rudolf Steiners. Die Uraufführung am Samstag wird vom Publikum begeistert aufgenommen, auch, oder weil der Kinderdarsteller, der den (kleinen) Steiner gibt, mit verblüffender Chuzpe die eineinhalb Stunden ohne Pause präsent ist und immer wieder frontal zum Publikum spricht.
Die Resonanzen zwischen dem esoterischem Denken und der Querdenker-Bewegung
Ein Junge, bei der Premiere ist es Flinn Naunheim, fragt altklug, warum gehen Leute ins Theater? Zündet sich eine Zigarette an, die er wie einen Fremdkörper von sich hält, und sagt „Mein Name ist Rudolf Steiner“. Er will über Erziehung sprechen. „Außerdem ist es immer interessant, ein Kind auf der Bühne zu sehen.“ Mit heiligem Ernst wird er wie ein Klon, dem man den Text eingeimpft hat, von spirituellen Erfahrungen erzählen und das Verhalten der Erwachsenen kommentieren – „alles verlorene Seelen“ – auch seinem Vorbild Nietzsche begegnen, auf dessen Denken Steiner seine Idee der Reinkarnation des geistigen Teils der Menschen aufbaut.
Was mysteriös anmutet, gerät zu einem so kurzweiligen wie subtilen und intelligenten Theaterabend, der nicht vorgibt, alles über Rudolf Steiner zu wissen. Dead Centre, die sich in ihren Bühnenstücken schon Sigmund Freud, Walter Benjamin, Ludwig Wittgenstein und Theodor W. Adorno angenähert haben, erkunden die kreative Kraft in Steiners Denken und das, was überholt ist. Zudem interessieren sie sich, wie Moukarzel im Interview formuliert, „für die Resonanzen zwischen dem esoterischen Denken und der aktuellen Querdenker-Bewegung“.
Das fantastische Ensemble macht die Ambivalenzen greifbar, nicht nur von der Person Steiner, auch von dem, was als Mainstream erst kritisches Denken provoziert. In ihren Rollen tragen die Schauspieler ihre eigenen Namen. Philipp Hauß (Gast vom Burgtheater Wien) als Schulmediziner ist wenig begeistert, dass sein Sohn – jene Projektion des Kinds Rudolf Steiner – die Waldorfschule besucht. „Kumpel“ nennt er ihn jovial. Die Beziehung zu seiner euphorischen Frau (Therese Dörr) ist angespannt. Wären da noch seine Schwester (Mina Pecik) und ihr neuer Freund (Felix Strobel), ein Pseudo-Alternativer, der damit Therese ins Bett kriegt. Als roter Faden geistert Goethes „Faust“ durch den Abend, am Ende brennt ein Wald wie einst Steiners Goetheanum in Dornach. Und stimmen hinter uniformen Masken die Schauspieler ziemlich spooky Bob Dylans „Death Is Not the End“ an.
Die Einsamkeit des modernen Menschen
Im Kammertheater Stuttgart hat einen Abend zuvor als deutsche Erstaufführung „Frau Yamamoto ist noch da“ Premiere, ein Episodenstück von Dea Loher, das Anfang September in Zürich und Tokio uraufgeführt wurde. Außer dem Namen der Titelheldin hat das Stück mit Japan wenig zu tun, Sole heißt Frau Yamamoto (Nicole Heesters) mit Vornamen. Auf der reduzierten Bühne, eine Drehscheibe, einige Stühle, die Zuschauer sitzen auf gegenüberliegenden Tribünen, entwickelt sich die Parabel um die Einsamkeit des modernen Menschen in der Regie von Intendant Burkhard C. Kosminski.
Nach und nach wird klar, wie Frau Yamamoto und die anderen zueinander stehen: ein Männerpaar, das sich trennen wird, ein Psychiater und seine Fernbeziehung, eine Frau, die als Teenager von ihrer Mutter zur Prostitution gezwungen wurde (souverän gelassen: Christiane Roßbach), eine Voyeurin in ihrer Wohnung . Wie in Schnitzlers „Reigen“, nur weniger erotisch aufgeladen, reihen sich Short Cuts aneinander in einer Alltagssprache, die neun Schauspieler fast unterkühlt wie aus dem Ärmel schütteln. Allein die eine Szene mit drei Anglern samt Piepsstimmen und Hasenköpfen – ums Fischsterben geht es hier – fällt peinlich aus dem Rahmen. Viel Applaus dennoch nach 100 Minuten.
Nächste Vorstellungen: www.schauspiel-stuttgart.de
