Abtauchen statt Alltag: Uraufführung des Musicals „formidabl“ auf dem Theaterschiff Heilbronn
Im Musical „formidabl“ flüchtet sich der Protagonist immer wieder aus der Realität in ein Soziales Netzwerk. Zusehends verwischen die Grenzen zwischen Realität und Cyber-Fake. Gibt es noch einen Ausweg? So lief die Premiere am Freitag auf dem Theaterschiff Heilbronn.

Unter Eskapismus versteht man in der Psychologie den Rückzug aus der realen Welt in eine illusorische Realität. Früher zogen sich Menschen in die imaginäre Welt des Fernsehens zurück, betrachteten die Schauspieler in Filmen und Serien als ihre Freunde oder fantasierten darüber, selbst in einer imaginären Welt ihre Träume zu verwirklichen.
Das Fluchtmedium dient der Entspannung, der Zerstreuung, der Befriedigung affektiver und kognitiver Bedürfnisse – in einer Scheinwirklichkeit, die normalerweise attraktiver oder besser erscheint als das wirkliche Leben. Heute sind es vor allem die digitalen Medien, die einen ständig präsenten Rückzugsort bieten, online hat man scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten der Unterhaltung, Information und Kommunikation.
Einer der das nutzt, ist Jakob Scherzer, Protagonist im Musical „formidabl“, das am Freitagabend auf dem Heilbronner Theaterschiff uraufgeführt wurde.
Worum es im Musical „formidabl“ auf dem Theaterschiff geht
Dieser Jakob (gespielt von Fabian Egli), ausgestattet mit einem Bachelor in Informatik („Wie ich den geholt habe, ist mir bis heute ein Rätsel. Motivation wird es nicht gewesen sein.“), arbeitet bei einem Speditionsbetrieb als Netzwerksupporter. Was bedeutet, dass er vor allem Spül- und Kaffeemaschinen repariert.
Zu den Kollegen hat er ein pragmatisches, kühles Verhältnis, gelangweilt geht es pünktlich um 16.30 Uhr in den Feierabend. Freizeit, das bedeutet für den Mittdreißiger dann vor allem, sich in digitale Welten zu begeben, in eine selbst erschaffene Isolation, angereichert durch Zigaretten, Energydrinks und Mikrowellenfraß.
Formidabl nennt sich das Soziale Netzwerk, in dem es sich der Mann mit Brille und Schirmmütze in einer Art Zweitleben gemütlich macht. Hier präsentiert Jakob eine idealisierte Version seiner Persönlichkeit und seines Lebens, prahlt mit seinen Koch-Skills, flirtet heftig mit einer Online-Bekanntschaft, ohne wirklich zu wissen, ob dahinter ein Bot oder eine Künstliche Intelligenz steckt. Zusehends verwischen Realität und Cyber-Fake.
Die Suche nach dem nächsten Kick, nach dem ständigen Thrill im Netz, ist für Jakob vor allem der Weg, um die familiären Probleme im realen Leben auszublenden. Jakobs Mutter starb, als er zehn Jahre alt war, an Krebs, sein Vater, der sich danach in die Arbeit stürzte anstatt für die Kinder da zu sein, ist inzwischen auch von einer schweren Krankheit gezeichnet und pflegebedürftig. Den Kontakt zu Schwester Nadine hat Jakob fast ganz eingestellt, ihre flehenden und wütenden Sprachnachrichten ignoriert er gekonnt. Doch dann spitzt sich die reale Situation langsam zu.
Musical „formidabl“: Humorvoller und beklemmender Blick auf Soziale Medien
„Formidabl“ wirft einen humorvollen, beklemmenden und doch klaren Blick auf die Gewohnheiten und den Stellenwert, den Soziale Netzwerke in unserem täglichen Leben einnehmen. Und auf die Gefahren, sich (komplett) in der Oberflächlichkeit zu verlieren. Fabian Egli spielt ihn überzeugend, diesen Normalo, der gelangweilt und gefrustet auf der Suche nach Bestätigung und Halt ist. Und der mit zunehmender Dauer auch den Blick hinter seine Fassade zulässt. Auch gesanglich kann der Schweizer Egli überzeugen.
Geschickt bringt die Produktion die virtuellen Welten auf die Bühne, mal wird der Chatverlauf mit der Online-Bekanntschaft auf die Leinwand geworfen, dann agiert Egli darüber mit virtuellen Figuren, singt sogar ein Duett mit sich selbst. An zwei Stellen greift dann auch das Publikum ein, kann – wohl ohne eine Auswirkung – via QR-Code auf der Bühne über den weiteren Verlauf der Handlung abstimmen.
Routiniert und charmant begleitet wird Egli am Keyboard von Christoph-Johannes Eichhorn, neben Eigenkompositionen werden Lieder wie „Mercy“ von Duffy, „Royals“ von Lorde, „I Can See Clearly Now“ von Johnny Nash oder „Every 1’s a Winner“ von Hot Chocolate in die Handlung eingebaut.
Viel Applaus und Bravo-Rufe gibt es nach etwas weniger als zwei Stunden (inklusive Pause) für einen vergnüglichen wie nachdenklichen Abend, der als Plädoyer fürs Offline-Sein verstanden wissen will. Passend in Zeiten, in denen über Social Media-Detox oder -Verbote diskutiert wird. „Lassen Sie uns bei einem Glas das echte Leben genießen“, sagt auch Fabian Egli nach einer Zugabe.