Warum von Schirachs neue Grundrechte für die EU nichts Neues sind
Ferdinand von Schirach fordert in einer Petition sechs neue Grundrechte für die EU. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot findet die Diskussion gut, findet den Vorschlag aber etwas vermessen. Welche Vorschläge es für neue Grundrechte schon gibt, erklärt sie im Interview.

Was ist für Sie wirklich neu daran?
Ulrike Guérot: Grundsätzlich finde ich es gut, wenn wichtige deutsche Schriftsteller sich dem Thema Europa zuwenden und damit Öffentlichkeiten erzeugen, die man sonst nicht hat. Europa-Diskussionen, die sonst immer sehr technisch sind - über Populismus, Rechtsstaatlichkeit - bekommen damit eine neue Dimension. Dafür bin ich Herrn von Schirach prinzipiell dankbar.
Aber war der Vorstoß neu?
Guérot: Natürlich ist es nicht neu, dass wir europäische Grundrechte brauchen. Es gibt sie in umfassender Form mit der europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta. Wir haben den Lissabonner Vertrag, der im Wesentlichen den Text der europäischen Verfassung enthält, die 2003 gescheitert ist. Es gibt viele Menschen, die seit Jahren an neuen Grundrechten arbeiten. Es hat etwas Vermessenes, Vorschläge zu machen, wenn man sich nicht die Mühe gemacht hat, zu schauen, welche Vorschläge es schon gibt.
Zumal vieles anderweitig geregelt ist.
Guérot: Die Grundrechte, die Herr von Schirach fordert, sind im Wesentlichen über den derzeitigen Grundrechtsbestand gedeckt. Schon jetzt gibt es ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung und eine Verpflichtung der Politik, den Umweltschutz zu gewährleisten. Damit wären zwei der geforderten Rechte schon mal abgedeckt.
Allerdings heißt es beim Umweltschutz, die Politik müsse ihn "einbeziehen". Ist das konkret genug?
Guérot: Grundrechte sind Freiheits- oder Gleichheitsrechte. Wenn wir diesen Charakter dahingehend verschieben wollen, dass daraus individuell einklagbare Rechte werden, müsste man das gründlich juristisch beleuchten. Politische Ziele sind etwas ganz anderes als Grundrechte. Ob politische Ziele Grundrechte sein könnten, die von jedem eingeklagt werden können sollen, das ist für mich nicht geklärt.
Wie meinen Sie das genau?
Guérot: In einem Interview spricht Herr von Schirach über eine Familie auf Langeoog, die die EU verklagt hat, weil die Insel durch den Klimawandel wegbricht. Die Klage ist abgewiesen worden, zurecht, wie ich finde. Wenn wir Langeoog schützen wollen, müssen wir unser Verhalten ändern und uns fragen, wie wir dabei vorgehen wollen. Mit dem Finger auf die EU zu zeigen, finde ich problematisch. Ein anderes Beispiel gab es in Österreich, dort hat ein an Multipler Sklerose Erkrankter geklagt, weil er den Umweltschutz für nicht ausreichend erachtete und sich davon besonders betroffen sah. Das ist sicherlich tragisch. Aber ist es rechtssystematisch erlaubt, dass wir ein individuelles Klagerecht haben, mit dem man klagen darf, wenn die Politik bestimmte Allgemeingüter nicht ausreichend schützt? Das halte ich für diskussionswürdig.
In Artikel 4 fordert von Schirach, dass Politiker immer die Wahrheit sagen müssen. Kann man das fordern?
Guérot: Nein. Da könnten wir bis zu Sokrates zurückgehen und fragen: Was ist überhaupt Wahrheit? Und selbst wenn es Wahrheit gibt, was ich behaupten würde, gibt es immer viele Perspektiven auf diese Wahrheit. Es gab mal die Wahrheit, dass Contergan ein hervorragendes Medikament ist, wenig später wurde diese Wahrheit abgeräumt. 2003 sah Bush die Wahrheit, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen hätte. Später zeigte die UN: Diese Wahrheit hat es nie gegeben. Perspektiven auf die Wahrheit auszudiskutieren, über Mehrheiten und Minderheiten zu verhandeln, das ist der demokratische Prozess.
Sie stimmen also nicht zu?
Guérot: Als Politikwissenschaftlerin sage ich Ihnen: Wenn es nur eine Wahrheit gibt, ist das letztlich totalitär. Die abendländische Philosophie beruht auf Sokrates: Kluge Menschen wissen, dass sie nichts wissen. Es gibt immer verschiedene Sichtweisen auf die Wahrheit.
Wie könnten Vorschläge für eine neue Verfassung umgesetzt werden?
Guérot: Momentan sind die europäischen Verträge, wie sie sind. Eine institutionelle Reform ist immer an der Zwei-Drittel-Mehrheit im europäischen Rat gescheitert. Solche Änderungen müssen in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Beim Lissabonner-Vertrag ist das gescheitert. Deshalb stellen wir seit Jahren keine institutionellen Vertragsreformen mehr zur Debatte. Wir haben einen enormen Reformstau und es ist offensichtlich, dass etwas Neues kommen muss. Aber wir können dieses politische Problem seit zehn Jahren nicht auflösen.
Aber wie lösen wir das Problem?
Guérot: Dazu ist die Idee entstanden, dass man jetzt die Bürger befragt. Wir wissen alle, dass Frau von der Leyen nicht demokratisch im Amt ist, weil sie nicht als Spitzenkandidatin gewählt wurde. Das hängt ihr noch immer an. Aber sie weiß um dieses Demokratiedefizit. Deshalb hat sie bei ihrem Antritt gesagt: Wir brauchen mehr Mitsprache der Bürger, wir machen die Zukunftskonferenzen. Am Montag wurde die Plattform dazu ausgerollt. Es gibt hunderte Dokumente, Umfragen, konkrete Pläne, wie es weitergehen soll. Jeder Bürger kann in 1500 Zeichen formulieren, welche Ideen er oder sie für ein künftiges Europa hat.
Glauben Sie, dass das funktioniert?
Guérot: Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist es abenteuerlich. Das wirft die Frage auf: Wer ist überhaupt der Souverän? Sind es die gewählten Abgeordneten im europäischen Parlament? Oder sind es die Bürger? Generell habe ich Bedenken, da an solchen Prozessen häufig vor allem Gebildete teilnehmen. Ich würde trotzdem sagen: Machen wir es einfach mal! Bei diesen Konferenzen sollen Ideen für Europa und europäische Grundrechte erarbeitet werden. Ich würde sagen: Nehmen wir die Ideen von Herrn von Schirach, stellen sie in diesem Forum zur Diskussion und dann wird man sehen, was passiert.
Zur Person
Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin am Institut für Europapolitik und Demokratieforschung der Donau-Universität Krems in Österreich und Gründerin des European Democracy Lab in Berlin. Interessierten empfiehlt sie, sich bei der Konferenz zur Zukunft Europas unter www.futureu.europa.eu einzubringen.
Die Idee: Sechs neue Grundrechte für die EU
Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach fordert sechs neue Grundrechte für die EU und konnte für seine Idee zahlreiche Prominente Unterstützer gewinnen. Er findet, die EU brauche sechs neue Grundrechte, nämlich folgende:
Artikel 1 - Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 - Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 - Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 - Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 - Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 - Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.