Verfassungsrechtlerin: Impfpflicht für Gesundheitsberufe wäre zumutbar
Frauke Brosius-Gersdorf, Professorin für öffentliches Recht in Potsdam, hält eine Impfpflicht für „verhältnismäßig, weil erstens der damit verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Berufsträger gering ist; und weil zweitens dadurch Leib und Leben der den Krankenhausärzten/-ärztinnen und dem Pflegepersonal beruflich anvertrauten Personen wirksam geschützt werden“. Eine Pflicht sollte tätigkeitsbezogen eingeführt werden.

In der Diskussion über steigende Infektionszahlen und dem Corona-Ausbruch in einem Pflegeheim im Landkreis Barnim (Brandenburg) mit mehreren Todesopfern wird auch wieder eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen thematisiert. Wäre eine solche Pflicht beispielsweise Pflegekräften und Ärzten zuzumuten, um Senioren und Kranke zu schützen?
„Rechtlich zulässig, vielleicht sogar geboten“
Eine klare Position vertritt hierzu die Verfassungsrechtlerin Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf von der Universität Potsdam. Sie sagte unserer Redaktion: „Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, die ein besonderes Näheverhältnis zu vulnerablen Menschen haben - z. B. im Krankenhaus, in der Pflegeeinrichtung - ist meines Erachtens rechtlich zulässig, vielleicht sogar geboten. Eine solche Impfpflicht, die der Gesetzgeber (nicht: die Exekutive) regeln müsste, bedeutete zwar einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der betreffenden Berufsträger, der Eingriff wäre aber vergleichsweise gering, weil das Risiko einer gesundheitlichen Schädigung durch eine Impfung nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse im Allgemeinen gering ist.“
Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wäre zudem verhältnismäßig, betont die Juristin: „In der Abwägung mit dem Schutz der vulnerablen Personen wie der Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern oder der Pflegebedürftigen in Pflegeeinrichtungen, der durch eine obligatorische Impfung der Berufsträger bewirkt würde, tritt das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Berufsträger zurück. Eine Impfpflicht wäre verhältnismäßig, weil erstens der damit verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Berufsträger gering ist; und weil zweitens dadurch Leib und Leben der den Krankenhausärzten/-ärztinnen und dem Pflegepersonal beruflich anvertrauten Personen wirksam geschützt werden.“
Zwar schließe eine Impfung das Risiko einer Infektion und Ansteckung anderer nicht zu 100 Prozent aus, betont Brosius-Gersdorf, sie vermindere es aber erheblich. Sie fügte hinzu: „Drittens sind Gesundheitsberufe geradezu berufsimmanent auf den Schutz der regelmäßig vulnerablen Patienten und Patientinnen bzw. Pflegebedürftigen angelegt; Ärzte und Pfleger übernehmen mit ihrer Berufswahl eine besondere Verantwortung für ihre Patienten bzw. Pflegeheimbewohner, was ebenfalls für die Zumutbarkeit einer Impfpflicht spricht.“
„In der Praxis besteht Problem einer effektiven Kontrolle der Testungen“
Die Verfassungsrechtlerin erklärte: „Ein milderes, Leib und Leben der Patienten und Patientinnen bzw. Pflegebedürftigen ebenso wirksam schützendes Mittel sehe ich nicht. Eine Impfung der vulnerablen Personen selbst schließt leider eine Corona-Infektion nicht aus, weil es Impfdurchbrüche gibt und insbesondere ältere und kranke Menschen oft besonders vulnerabel sind. Und auch regelmäßige Testungen der Ärzte und Ärztinnen sowie Pfleger und Pflegerinnen sind nicht vergleichbar wirksam wie eine Impfpflicht, zumal die Test eine gewisse Fehlerquote haben und in der Praxis das Problem einer effektive Kontrolle der Testungen besteht."
Eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen müsste aber sorgfältig ausgestaltet werden, sagte Brosius-Gersdorf weiter, „damit sie verhältnismäßig ist und die darin liegende Ungleichbehandlung gegenüber anderen Berufsgruppen ohne Impfpflicht gerechtfertigt ist“. Deshalb sei es wichtig, dass der Gesetzgeber die Impfpflicht „nicht berufsbezogen, sondern tätigkeitsbezogen einführt. Er könnte z. B. an die Tätigkeit in Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen anknüpfen, in denen regelmäßig vulnerable Personen liegen und wo ein besonderes und nicht nur flüchtiges körperliches Näheverhältnis besteht zwischen dem Gesundheitspersonal und den Patienten bzw. Pflegebedürftigen“.
Ihre Empfehlung: „Eine Ausnahme muss der Gesetzgeber vorsehen für Gesundheitspersonal, für das etwa wegen einer einschlägigen Vorerkrankung eine Impfung ein erhöhtes Gesundheitsrisiko birgt. In solchen Fällen kann die Abwägung anders ausfallen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der betroffenen Berufsträger in der Abwägung mit dem Schutz der PatientInnen und Pflegebedürftigen im Einzelfall vorgehen.“
Datenschutz hat keinen Vorrang vor Gesundheits- und Lebensschutz
Sollte es auch eine Auskunftspflicht geben, nach der Patienten/Pflegebedürftige den Impfstatus des Pflegenden erfragen dürfen? Wäre dies rechtlich durchsetzbar? Hochschullehrerin Brosius-Gersdorf: Solange keine Impfpflicht für die genannten Berufsgruppen bestehe, halte sie ein Auskunftsrecht der Patientinnen und Patienten sowie Pflegebedürftigen für angezeigt. Und: „Ebenso ist ein Auskunftsrecht der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinsichtlich des Impfstatus gerechtfertigt. Von ungeimpften Personen geht eine erhebliche Gefährdung insbesondere vulnerabler Personen wie Kranker und Pflegebedürftiger aus, sodass die Auskunft über den Impfstatus zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit notwendig ist. Die damit verbundenen Probleme der rechtlichen Durchsetzbarkeit und des Datenschutzes sind lösbar. Datenschutz genießt keinen Vorrang vor dem Gesundheits- und Lebensschutz von Patienten und Pflegebedürftigen.“
Seit 2015 ist Frauke Brosius-Gersdorf stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen, seit 2016 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
Auch Wolfram Henn, im Saarland lehrender Medizinprofessor und Mitglied des Deutschen Ethikrates, befürwortet eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen – und eine Auskunftspflicht. Die zu schützenden Menschen sollten einen Rechtsanspruch darauf haben, zu erfahren, ob die ins Haus kommende Pflegeperson geimpft sei oder nicht.