Neues Infektionsschutzgesetz löst breite Kritik aus
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn soll während der Pandemie mehr Macht bekommen. Dazu will der Bundestag am Mittwoch eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes beschließen. Zu Protesten in Berlin werden Tausende Gegner der Corona-Maßnahmen erwartet. Wir haben Fragen und Antworten gesammelt.

Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Nach dieser Maßgabe will der Bundestag am Mittwoch das Infektionsschutzgesetz verschärfen. Das "Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" räumt dem Gesundheitsminister in einer Pandemie mehr Macht ein. Kritiker sehen eine Gefahr für die Demokratie. Wir haben Fragen und Antworten gesammelt.
Warum braucht es das Gesetz?
Die Bundesregierung hat das Infektionsschutzgesetz schon im März und im Mai erweitert, um Corona-Maßnahmen zu ermöglichen. Das Gesundheitsministerium wurde ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen, ohne dass der Bundesrat zustimmen muss. Minister Jens Spahn (CDU) hat das genutzt, etwa um Ansprüche auf Corona-Tests zu regeln oder Tests bei Einreisen anzuordnen.
Zweck und Ziel solcher Verordnungen müssen jedoch genau umrissen sein. Und auch Corona-Maßnahmen wie die Maskenpflicht wurden von einigen Gerichten gekippt, weil sie keine ausreichende rechtliche Grundlage sahen. Bisher war das Infektionsschutzgesetz nämlich nicht für die Bekämpfung einer Pandemie ausgelegt, es erlaubt bisher nur die Anordnung "notwendiger Schutzmaßnahmen". Das neue Gesetz soll das ändern.
Was ändert sich konkret?
Das Gesetz schreibt mögliche Schutzmaßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Abstandsgebot, Maskenpflicht und Betriebsschließungen gesetzlich fest. 17 mögliche Maßnahmen werden genannt, die jedoch "nicht abschließend" seien. Sie können angeordnet werden, wenn der Bundestag den Pandemiefall ausgerufen hat. Auch die Infektionsgrenzen werden festgeschrieben: Ab 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche sollen einfache Maßnahmen greifen, stärker einschränkende Maßnahmen sollen ab 50 Neuinfektionen gelten.
Bei einer bundesweiten Überschreitung sollen "bundesweit abgestimmte" Maßnahmen angestrebt werden. Die Definition "Risikogebiet" wird gesetzlich verankert. Landesregierungen müssen ihre Corona-Verordnungen zudem künftig zwingend begründen und befristen, können sie jedoch weiter verlängern.
Was wird noch geregelt?
Das Robert-Koch-Institut soll das Impfgeschehen besser überwachen können. Dazu sollen etwa Impfzentren pseudonymisierte Daten zu Alter, Geschlecht und Wohnort geimpfter Personen digital übermitteln. Außerdem kann der Gesundheitsminister Vorgaben zur Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstung machen. Auch die Zulassung eines Corona-Impfstoffs soll ausnahmsweise schneller geschehen, wenn das Gesundheitsministerium es anordnet.
Was wird kritisiert?
Kritiker bezeichnen das Gesetz als unverhältnismäßig. "Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass eine Norm so formuliert ist, dass das Verhalten der Behörden nach Inhalt, Zweck und Ausmaß begrenzt wird und die Gerichte an diesem Maßstab das behördliche Vorgehen kontrollieren können", schreibt die Juristin Andrea Kießling von der Universität Bochum im "Verfassungsblog". Sie fordert, dass flächendeckende Einschränkungen erst greifen, wenn Infektionsketten nicht mehr nachvollzogen werden können. Die AfD hat vier Anträge eingereicht, in denen sie das geplante Gesetz ablehnt, die Aufhebung der Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern fordert und eine Epidemiekommission einsetzen möchte.
Was sagen Befürworter?
"Aus meiner Sicht ist es richtig, dass man die Voraussetzungen für die rechtlichen Einschränkungen stärker bestimmt als in der Vergangenheit", sagt der Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler, Mitglied im Ausschuss für Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins. Dieser hatte kritisiert, dass die Verordnungen stark in Grundrechte eingreifen. "Dem wird man nun gerecht mit Beispielen möglicher Maßnahmen." Die Pflicht, Corona-Verordnungen zu begründen, findet er sinnvoll.
Er widerspricht dem Argument, die Maßnahmen seien nicht ausreichend beschrieben. "Es ist im Polizeirecht nichts Ungewöhnliches, dass es neue Entwicklungen gibt, die man nicht genau umreißen kann." Er vermutet, dass Gerichte Corona-Maßnahmen nun seltener kippen werden. In vergangenen Urteilen hätten sie offengelassen, ob die "Generalklausel", auf der die Maßnahmen bisher fußen, ausreichend ist. "Damit hat man dem Gesetzgeber Zeit gegeben, Voraussetzungen zu schaffen."
Als Beispiel nennt er den flächendeckenden Lockdown im Kreis Gütersloh, den das zuständige Gericht erst billigte, ihn jedoch später, als klar war, dass es nur wenige lokale Ausbrüche gab, als unverhältnismäßig ansah. Der Heilbronner SPD-Abgeordnete Josip Juratovic befürwortet das Gesetz: "Zukünftig wird die Bundesregierung den Bundestag regelmäßig über die Entwicklung der epidemischen Lage unterrichten, damit wir unsere parlamentarische Kontrolle ausüben können." Dabei würden die Abgeordneten Fragen stellen, die Bundesregierung zum Handeln auffordern und notfalls Entscheidungen per Gesetz zurückholen.
Gibt es Widerstand?
Die Stuttgarter Initiative "Querdenken" hatte Proteste vor dem Bundestag angekündigt. Es wurden sechs Versammlungen mit mehr als 6000 Teilnehmern angemeldet, auch Gegendemonstrationen. Das Bundesinnenministerium verbot jedoch Demos vor dem Bundestag, um die Arbeit des Parlaments nicht zu gefährden. Im Netz kursierten Aufrufe, die Zugänge zum Bundestag zu blockieren. Die Berliner Polizei erklärte, die Corona-Auflagen mit "allen zulässigen Mitteln" durchzusetzen. Auch digital gab es Protest: Der CSU-Abgeordnete Alexander Dobrindt berichtete, dass er alleine 37.000 gleichlautende E-Mails zu dem geplanten Gesetz erhalten hat.


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