Wie Schizophrenie und Identitätsstörung das Leben von Betroffenen prägen
Wahnvorstellungen, multiple Persönlichkeiten – ein Mann und eine Frau erzählen, wie sie mit ihren psychischen Erkrankungen umgehen.
Sein Vater holt ihn von der Schule ab, im Auto redet der Sohn völlig wirr. „Du machst mir Angst“, sagt der Vater. Das ist lange her. Der Sohn, damals 18, ist heute 46 Jahre alt. Inzwischen weiß er, dass er schizophren ist. Die psychische Erkrankung ist ein Teil von ihm. Mehr noch. „Es ist eine Bereicherung“, sagt der Mann aus dem Neckar-Odenwald-Kreis selbstbewusst. Die Krankheit ebnet ihm den Weg zu seiner beruflichen Tätigkeit. Als ausgebildeter Genesungsbegleiter steht er in einer Klinik anderen Psychiatrie-Patienten zur Seite.
Schizophrenie: Unbehandelt, besteht ein höheres Risiko für Gewalttätigkeit
In der öffentlichen Wahrnehmung ist Schizophrenie ein Stigma. Betroffene stehen dann im Fokus, wenn es nach einer Amokfahrt oder einem Messerangriff schnell heißt, der Täter war schizophren. Oder neulich der Mann, der Richtern des Heilbronner Amtsgerichts in einem Tiktok-Video mit dem Tod drohte. Ein Gutachter soll bei ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert haben.

In der Tat belegen wissenschaftliche Studien, dass bei Menschen mit einer nicht behandelten Schizophrenie ein erhöhtes Risiko für Kriminalität und letztlich für Gewalttaten besteht. Aber: Die absolute Mehrheit aller Betroffenen lebt friedlich. So wie der 46-Jährige aus der kleinen Stadt im Neckar-Odenwald-Kreis. Er ist humorvoll. Schalk blitzt auf, wenn er sagt: „Ich dachte, ich bin der Auserwählte – das bin ich ja auch.“ Er grinst.
Multiple Persönlichkeit: Frau erzählt von Gewalt und Missbrauch
Das Gespräch kommt auf Vermittlung von Uwe Hellwich (61) zustande. Er ist Geschäftsführer des Weinsberger Hilfsvereins mit Sitz in Heilbronn. Der Verein unterstützt mit einem breiten Angebot psychisch kranke Menschen in der Region.
Von ihrer Erkrankung berichtet auch eine 61 Jahre alte Frau aus dem Landkreis Heilbronn. Sie habe eine dissoziative Identitätsstörung, sei eine multiple Persönlichkeit. Diese Diagnose habe sie erst 2019 erhalten. Die Frau erzählt, sie habe von frühester Kindheit an extreme Gewalt und Missbrauch erfahren. Ihre Mutter sei gestorben, als sie etwa eineinhalb Jahre alt war, danach habe die Gewalt angefangen. Um damit umzugehen, habe sich ihre Seele abgespalten. „Ich habe verschiedene Persönlichkeiten entwickelt.“ Bewusst war ihr das lange nicht.
Frau kämpft mit der Aufarbeitung der gewalttätigen Erlebnisse
Als ihr Vater starb, war sie um die 20 – und brach zusammen. Es folgten Klinikaufenthalte und Therapien. Nach außen hin führte sie ein normales Leben – machte mittlere Reife, eine Ausbildung, engagierte sich in einem Chor, bekam Kinder.
Doch da gab es auch die anderen Seiten in ihr. Sie fand sich an Orten wieder, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Ihr anscheinend vertraute Menschen seien ihr auf der Straße begegnet und sie kannte die nicht. Pakete wurden ins Haus geliefert, von denen sie nicht wusste, dass sie sie bestellt hatte. „Ich dachte, ich bin halt chaotisch. Das dachten andere auch von mir.“
Heute weiß sie um die verschiedenen Persönlichkeiten in ihr. Da gebe es beispielsweise Anna, die mit links malt oder bügelt, obwohl sie sonst Rechtshänderin sei. Oder den „frechen Bernd“, der gut organisiert sei. Mit ihrer Identitätsstörung hat sie zu leben gelernt. Mit der Aufarbeitung der erfahrenen Gewalt hat sie zu kämpfen, sagt sie. „Ich habe damit zu tun, meinen Selbstwert aufrechtzuerhalten. Mit der ,dis‘ kann ich ganz gut umgehen.“
Betroffene einer psychischen Erkrankung helfen Psychiatrie-Patienten
Die Frau aus dem Landkreis und der 46-Jährige mit Schizophrenie erfüllen nicht das Klischee der unberechenbaren potenziellen Gewalttäter. Sie waren und sind nicht aggressiv. „Ich habe mich im Kopf kasteit“, erinnert sich der Mann an seine Zeit als junger Mann. Nachts habe er nicht geschlafen, in der Schule sei er unkonzentriert gewesen. Er entwickelte Schuldgefühle wegen der Trennung der Eltern. Morgens beim Frühstück sagte er dem Vater: „Eigentlich hätte ich den Tod verdient.“ Daraufhin brachte der ihn in die Psychiatrie. Medikamente brachten die Besserung.
Einige Jahre später – ohne passende Medikamentierung – habe er einen Rückfall erlitten.Der 46-Jährige erinnert sich: „Ich war in Karlsruhe shoppen und dachte, durch meine Aura folgen mir Menschen.“ Wie ein Messias. Davon war er felsenfest überzeugt. Er habe eine Polizeistreife gesehen und für ihn stand zweifelsfrei fest, er habe einen Anschlag verhindert.
Wahnvorstellungen ja, Gewalt nein. Obwohl er sich erinnert, dass er mal Gegenstände aus einem Fenster geworfen habe. Die hätten glücklicherweise niemanden getroffen und verletzt. „Ich fühle mich gesund“, sagt der 46-Jährige. Als Genesungsbegleiter in einer Klinik gibt er seine Erfahrungen weiter. „Viele Patienten denken, das war’s, jetzt bin ich weggeschlossen.“ So habe er mit 18 auch gedacht. Heute weiß er und sagt anderen Betroffenen: „Dieses Gefühl geht wieder weg.“

Stimme.de