Professorin im Interview zum Weltfrauentag: "Gleichstellung ist kein Selbstläufer"
Frauen einmal im Jahr zum Weltfrauentag (8. März) hochleben zu lassen, ist zu wenig, sagt Johanna Possinger, Professorin für Frauen- und Geschlechterfragen an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Ein Interview über Defizite in der Gleichstellung und nötige Veränderungen.

"Das Bild vom Mann als Ernährer ist noch extrem stark in den Köpfen verankert", sagt Johanna Possinger, Professorin für Frauen- und Geschlechterfragen an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Zum heutigen Weltfrauentag spricht Possinger über Defizite in der Gleichstellung und was sich in Deutschland ändern muss.
Frau Possinger, sollte nicht jeder Tag Weltfrauentag sein?
Johanna Possinger: Die Frage, wie eine Gesellschaft geschlechtergerechter werden könnte, wäre eine, die wir uns jeden Tag stellen sollten. Und nicht nur einmal im Jahr. Der Tag verfolgt ja mehrere Ziele. Das eine ist, überhaupt mal sichtbar zu machen, was denn die Beiträge von Frauen in der Gesellschaft sind. Und zum anderen gilt es, an diesem Tag sichtbar zu machen, was schon erreicht wurde, aber auch wo noch Handlungsbedarfe bestehen.
Sollte sich Deutschland eine Scheibe von anderen Ländern abschneiden, wo es Demonstrationen oder Blumen von Männern gibt?
Possinger: Interessant ist ja, dass der Weltfrauentag schon in zwei Bundesländern ein Feiertag ist, in Berlin und im Mecklenburg-Vorpommern. Generell gilt: Der Tag hat vor allem Symbolcharakter. Bevor man sich von Männern mit Blumen beschenken lässt, ist es sinnvoller, wenn sie an dem Tag, und nicht nur an dem Tag, mehr im Haushalt unterstützen und in der Kinderbetreuung übernehmen. Ich würde mir dahingehend eher gesellschaftliche Veränderungen wünschen als einmal im Jahr Frauen hochleben zu lassen.
Wo sehen Sie die größten Defizite?
Possinger: Die Lohnungleichheit der Geschlechter ist stark, und das, obwohl Frauen heutzutage besser ausgebildet sind. Es arbeiten nach wie vor nur wenige Frauen in Führungspositionen, was vor allem daran liegt, dass sie hauptsächlich für die Sorge- und Familienarbeit tätig sind. Wir haben ein hohes weibliches Armutsrisiko. Und, was wir nicht vergessen dürfen, ist das Thema der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Jede Stunde erleben durchschnittlich 13 Frauen in Deutschland Gewalt durch ihren Partner oder Expartner. Statistisch gesehen ist das Zuhause der gefährlichste Ort für Frauen, gefährlicher als dunkle Parkhäuser.
Was muss passieren?
Possinger: Gleichstellung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Das macht es schwer, weil es nicht mit einer Maßnahme getan ist. Wir bräuchten eine bessere Bezahlung für Frauen, vor allem auch in Sorgeberufen. Dafür sind Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zuständig. Wir müssten mehr für armutsbetroffene Frauen tun. Da ist vor allem die Bundesregierung am Zug. Wir brauchen bessere Kindertagesbetreuung, dafür sind die Kommunen zuständig. Und wir bräuchten mehr Frauenhäuser und Beratungsstellen, wofür auch wieder Kommunen, Länder und der Bund zuständig sind.
Die Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen werde voraussichtlich erst in 132 Jahren erreicht, sagte das Weltwirtschaftsforum im Juli 2022. Eine erschreckend lange Zeit, oder?
Possinger: Das macht einen fassungslos. Und gleichzeitig zeigt es auch, dass es politischen Willen und gesetzliche Veränderungen braucht. Wir dürfen nicht den Fehler begehen und denken, dass Gleichstellung ein Selbstläufer sei. Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass es dramatische Rückstände geben kann. Denken Sie zum Beispiel an die USA, wo der Oberste Gerichtshof das Recht auf Abtreibung gekippt hat.
Ist der Spagat für berufstätige Frauen zwischen Kindern und Karriere kleiner geworden?
Possinger: Es kommt drauf an, womit man es zeitlich vergleicht. In den vergangenen 15 Jahren ist sehr viel Positives passiert. Es gab einen starken Ausbau an Kindertagesbetreuung, der Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Grundschulkinder steht auch kurz bevor, und vor 15 Jahren wurde das Elterngeld eingeführt. Dennoch: In den meisten Familien arbeiten die Männer in Voll- und die Frauen in Teilzeit. Väter verbringen statistisch gesehen sogar mehr Zeit am Arbeitsplatz als ihre kinderlosen Kollegen. Dieses Bild vom Mann als Ernährer ist noch extrem stark in den Köpfen verankert.
Wo sehen Sie die bisher größten Versäumnisse?
Possinger: Da würde ich gern zwei Bereiche herausgreifen, in denen wir uns in Deutschland nicht mit Ruhm bekleckert haben. Im Gegenteil. Es ist eher ein Skandal, was wir uns da leisten. Zum einen das Thema Armutsbekämpfung. Es sind vor allem alleinerziehende Mütter, die sehr stark von Armut betroffen sind. Und zum anderen der Gewaltschutz. Deutschland hat vor Jahren die Istanbul-Konvention mitunterschrieben und sich eigentlich für einen besseren Gewaltschutz von Frauen und Mädchen entschieden, aber die Vorgaben sind in Deutschland noch nicht umgesetzt worden. Es gibt viel zu wenige Frauenhäuser und die Plätze, die zur Verfügung stehen, sind chronisch überlastet sowie prekär finanziert.
Zum Abschluss die Frage: Was stimmt Sie positiv?
Possinger: Dass die junge Generation, die sogenannte Generation Z, sehr sensibilisiert für Geschlechtergerechtigkeit ist. Und dass es starke, politische Gruppen gibt, die von sehr mutigen und jungen Frauen angeführt werden. Denken wir an Fridays for Future, die eine sehr weibliche Bewegung ist.

Zur Person: Johanna Possinger lehrt seit 2016 an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg zu Frauen- und Geschlechterfragen in der Sozialen Arbeit. Sie promovierte 2013 in Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin über Väter in Elternzeit. Sie forscht unter anderem zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Vaterschaft, Frauen und Geld sowie Familienarbeit im Sozialraum. Sie ist Vorstandsmitglied im Landesfamilienrat Baden-Württemberg, Mitglied im Präsidium der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie und Expertin im Kammernetzwerk der Evangelischen Kirche in Deutschland