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Demo erinnert an „Schwarzen Donnerstag“

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Mehrere tausend Gegner des Milliardenprojekts Stuttgart 21 wollen heute Abend (18 Uhr) an einen blutigen Polizeieinsatz gegen Demonstranten vor genau fünf Jahren erinnern.


 

Am 30. September 2010 eskalierten in Stuttgart die Auseinandersetzungen auf dem Baufeld für den umstrittenen Tiefbahnhof. Als sich tausende Demonstranten dort Baumfällarbeiten entgegenstellten und die Polizei den Schlossgarten räumte, wurden nach Angaben des Innenministeriums mehr als 160 Menschen verletzt. Der überharte Polizeieinsatz ging als „Schwarzer Donnerstag“ in die Landesgeschichte ein.

Schlagstöcke und Pfefferspray

Es waren Szenen im Stuttgarter Schlossgarten, die in der beschaulichen Landeshauptstadt niemand für möglich gehalten hatte: Martialisch gekleidete Polizisten traktierten Demonstranten mit Schlagstöcken und Pfefferspray. Wasserwerfer schossen auf Menschen am Boden und in Bäumen. Der Rentner Wolfram Neunz, der am „Schwarzen Donnerstag“ mit seiner Frau vor Ort war, erinnert sich: „Ich habe gedacht, hier ist der Krieg ausgebrochen.“ 

Der ehemalige Maschinenschlosser kam glimpflich davon, seine Gattin erlitt eine Augenreizung. Nach Auskunft der S-21-Gegner wurden mehr als 400 Menschen verletzt, als der Stadtpark für Baumfällarbeiten für das Bahnvorhaben geräumt wurde. Um die Welt ging das Foto des Rentners Dietrich Wagner, der aus den Augen blutete. 

Der „Schwarze Donnerstag“ war der Höhepunkt des Konflikts um den mittlerweile bis zu 6,5 Milliarden Euro teuren Neubau des Bahnknotens Stuttgart. Für viele der damals Betroffenen wie Neunz war die Eskalation Startschuss für langandauerndes Engagement. Der Rentner will trotz der in der City überall sichtbaren Zeichen des Baus seinen Protest nicht aufgeben: „Wir wollen die Sache bis zum Schluss begleiten.“ Sein Hauptargument gegen das seit Mitte der 1990er Jahre geplante Projekt ist auf seinem Plakat zu lesen: „Viel Lüge, wenig Züge.“ Für die S-21-Kritiker ist die verhasste Durchgangsstation unter der Erde ein Rückbau im Vergleich zu der Kapazität des bisherigen Kopfbahnhofes.

Wutbürger

Kurze Zeit nach der Eskalation in Stuttgart wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache „Wutbürger“ zum Wort des Jahres 2010. „Wutbürger“ wie Neunz gibt es noch, doch ihre Zahl ist mittlerweile geschrumpft. So sehen nach der jüngsten Bürgerumfrage der Stadtverwaltung mehr Stuttgarter das Vorhaben positiv als negativ. Bereits beim Bürgerentscheid 2011 hatten sich zum Leidwesen der Grünen in der grün-roten Landesregierung die Bürger für den Weiterbau des Projektes ausgesprochen. Während zu Hochzeiten noch Zehntausende auf die Straße gingen, hat sich die Zahl der Demonstranten derweil auf 1000 eingependelt.

Doch was treibt Menschen noch zu den Kundgebungen auf den Stuttgarter Schlossplatz? Der Berliner Soziologe Dieter Rucht nennt mehrere Gründe: „Aufgeben wird als Verrat empfunden.“ Die weiterhin Protestierenden sähen sich als eine verschworene Gemeinschaft der Aufrechten und Unverzagten. „Das verleiht Selbstbewusstsein und sichert soziale Anerkennung im Kreise der Gleichgesinnten“, stellt Rucht fest. Zudem wolle man auf kritische Fragen nachfolgender Generationen antworten können: „Ich habe immerhin das mir Mögliche bis zuletzt versucht.“

Tikran Sukasian glaubt nicht mehr an den Erfolg des Protests, geht aber aus Trotz auf die Straße. „Ich komme, um Masse zu zeigen“, erläutert der Mann, der mit einem Alter von 57 Jahren noch zu den jüngeren Demonstranten gehört. Auch eine 79-jährige Mitstreiterin, die jedes Mal 45 Minuten Bahnfahrt nach Stuttgart auf sich nimmt, hat wenig Hoffnung, dass das Projekt noch umkehrbar ist. „Das ist David gegen Goliath“, sagt die Rentnerin resigniert. Aber: „Wenn wir alten Leute nicht aufstehen, tut's keiner.“ Dabei müssten die Jungen doch später die Unsummen zahlen.

Die wöchentlichen Treffen auf dem Schlossplatz sind mittlerweile auch ein soziales Ereignis, bei dem Gleichgesinnte zusammenkommen. Neben der Demo gibt es einen Strauß von Angeboten, vom Blockadefrühstück über Kabarett bis hin zum Parkgebet. Dauerdemonstrantin Ruth Gisela Evers ist das gemeinsame Einstehen für eine „gute Sache“ wichtig: „Wir haben hier jeden Montag Volkshochschule.“ Zahlreiche S-21-Gegner sind zu Experten für alle möglichen Aspekte des komplexen Themas geworden: So hat die 81-Jährige nicht nur Einblick erhalten in die Tücken des Tunnelbaus, sondern auch in die möglichen Gefahren für das Mineralwasservorkommen sowie in knifflige Entschädigungsfragen.

Untersuchungsausschuss 

Bei den Gegnern herrscht die Überzeugung vor, dass der harte Polizeieinsatz nicht ohne Rückendeckung der S-21-freundlichen Landesregierung unter Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) stattfand. „Er wollte reinen Tisch machen und den Widerstand im Keim ersticken“, meint die ehemalige Verdi-Landeschefin Sybille Stamm. Sie hofft auf den Untersuchungsausschuss Schlossgarten II, der herausfinden soll, ob es eine politische Einflussnahme auf den Polizeieinsatz gab. Neue Erkenntnisse ergeben sich möglicherweise aus den E-Mails der ehemaligen Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU). Nach langem juristischem Hickhack hat das Landtagsgremium das Recht errungen, den dienstlichen Schriftverkehr der Mappus-Vertrauten einzusehen. lsw

 

Der Baufortschritt bei Stuttgart 21

Das bis zu 6,5 Milliarden Euro teure Bahnprojekt umfasst eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die Schnellbahntrasse nach Ulm. An dem seit Mitte der 1990er Jahre geplanten Vorhaben wird seit Februar 2010 gearbeitet. Die ersten Züge sollen Ende 2021 durch den neuen Bahnknoten rollen. 

Die Baugrube für den Tiefbahnhof in der Stuttgarter City ist in 25 Segmente unterteilt, von denen an 13 derzeit gearbeitet wird. Die größte Baugrube im Mittleren Schlossgarten ist nach Angaben der Bahn rund 80 Meter lang, 50 Meter breit und 8 Meter tief. An deren Seitenrändern und innerhalb sind rund 80 Bohrpfähle errichtet. Dies sind die ersten von mehreren 100, die die Bodenplatte tragen sollen. 

Am Nesenbachdüker, der Voraussetzung für den Tiefbau der Bahnhofshalle ist, wird bereits gearbeitet; dabei wird eine große Abwasserleitung um den Bahnhofstrog geleitet. 

Baugenehmigungen bei Stuttgart 21 stehen noch aus für die beiden Abschnitte am Flughafen sowie für den Abstellbahnhof im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim. 

Bei Stuttgart 21 verlaufen 33 Kilometer der neuen Bahnstrecken im Tunnel. Dafür werden Röhren mit einer Gesamtlänge von zusammen rund 60 Kilometern gebaut. Derzeit sind davon rund 8,5 Kilometer vorangetrieben. 

Auf der Neubaustrecke zwischen dem Endpunkt von Stuttgart 21 in Wendlingen und der Donaustadt Ulm sind bis auf den Albvorlandtunnel alle größeren Tunnel im Bau. Von den 60 Kilometern Strecke verlaufen 31 Kilometer im Tunnel. Dafür werden Röhren mit einer Gesamtlänge von rund 62 Kilometern gebaut, von denen ein Drittel schon geschafft ist. lsw

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