Stimme+
Lange Warteschlange
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

Chaos in Ausländerbehörde in Stuttgart: Zwei Jahre warten, bis man arbeiten darf

   | 
Lesezeit  4 Min
Erfolgreich kopiert!

Campieren vor der Ausländerbehörde – keine Seltenheit in Stuttgart. Das Problem: Die Menschen, die hier in der Schlange stehen, würden gerne arbeiten. Das können sie ohne die nötigen Papiere aber nicht. Woran es in der Behörde scheitert.

von Matthias Schmid
Betroffene warten teils ab 3:30 Uhr morgens in einer langen Schlange vor der Ausländerbehörde in Stuttgart – teils vergeblich. Wie lässt sich das Chaos erklären? Und ist eine Besserung absehbar?
Betroffene warten teils ab 3:30 Uhr morgens in einer langen Schlange vor der Ausländerbehörde in Stuttgart – teils vergeblich. Wie lässt sich das Chaos erklären? Und ist eine Besserung absehbar?  Foto: Matthias Schmid

Das Café Hegel öffnet um sechs Uhr morgens. Für viele der Wartenden ist das eine Erlösung. Auch für Oron Haim. Der Mann aus Israel hat bereits am Montagmorgen um halb vier seine Picknickdecke auf den Boden am Josef-Hirn-Platz in Stuttgart ausgelegt. Eineinhalb Stunden später kann er sich endlich einen Kaffee und eine Butterbrezel holen. Er weiß nämlich nicht, wie lange er heute noch warten muss. Als er ankommt, sind schon vierzig Menschen vor ihm in der Schlage in der Eberhardstraße 39. Manche von ihnen haben mit ihren Kindern die Nacht vor dem schmucklosen Betonklotz verbracht – in der Hoffnung gleich ins Gebäude zu kommen. 

Haim und die anderen warten nicht auf das neues iPhone, sondern darauf, dass die Sicherheitsleute vor der Ausländerbehörde sie reinlassen. Denn reguläre Termine gibt es schon lange nicht mehr. Auch heute steht vor dem Eingang wieder ein Schild, auf dem steht: „Heute keine Ausgabe mehr von Wartemarken“. Der Zufall entscheidet. 

Chaos in Ausländerbehörde in Stuttgart: Warum die Wartezeit auf Arbeitserlaubnis teils zwei Jahre dauert

„Das geht bereits seit zwei Jahren so“, sagt Haim. Der 28-Jährige spricht leise, aber immer wieder huscht ihm ein Lächeln übers Gesicht, obwohl es ihm eigentlich zum Weinen zumute ist. Er versucht seit Mai, sein Visum und seine Arbeitserlaubnis verlängern zu lassen. Er ist ein in Deutschland ausgebildeter Sozialpädagoge und arbeitet als Projektleiter bei Kubus in Stuttgart und Fellbach, einem gemeinnützigen Verein, der sich gerade für eine offene Einwanderungsgesellschaft und für Menschen mit Fluchtgeschichte einsetzt, die Arbeit suchen. Am Beispiel von Haim lässt sich exemplarisch die ganze Tragik und Vielschichtigkeit des Problems in Stuttgart aufzeigen. In der Schlange stehen genau die Fachkräfte, die die Stadt und das Land so dringend suchen. Aber sie können nicht arbeiten, weil der Fachkräftemangel in der Stuttgarter Behörde sie aufhält. 

Und nicht erst seit zwei Jahren, sondern seit zehn, wie der Linke-Stadtrat Luigi Pantisano bestätigt. Schon so lange würden seine und die anderen Fraktionen vergeblich parlamentarische Anträge stellen, um das Personal in der Ausländerbehörde zu erhöhen und die Digitalisierung zu verbessern. Aber geschehen sei nichts. Vor allem CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper würde sich nicht sonderlich dafür interessieren und das Thema kleinreden. „Ich ertrage diese Schlange und die Haltung der Stadt aber nicht mehr“, sagt Pantisano der Heilbronner Stimme. Haim sei kein Einzelfall. Er selbst habe mit Menschen gesprochen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und seit drei Monaten ist es so schlimm, dass die Leute begonnen haben vor der Behörde zu schlafen. Pantisano ist der erste Stadtrat, der zu den Menschen hingegangen ist und ihnen Kaffee und Tee ausgeschenkt hat, er macht seit ein paar Tagen öffentlich massiv auf die Probleme aufmerksam. Im Willkommenszentrum herrsche eine Ablehnungskultur, sagt er. „Sie zeigen den Menschen, dass sie sie eigentlich gar nicht wollen oder erst nach einer Tortur“. 

Zustände in Ausländerbehörde zum Verzweifeln

Oron Haim lebt gerne in Stuttgart, nachdem er vor sieben Jahren zum Bundesfreiwilligendienst aus Rechovot gekommen ist, einem Ort, der zwanzig Kilometer südlich von Tel Aviv liegt. „Stuttgart ist meine Heimat geworden, hier sehe ich auch meine Zukunft“, bekennt er. Aber die Zustände in der Ausländerbehörde seien zum Verzweifeln. Mails bleiben seit Monaten unbeantwortet, mit dem Telefon kommt man gar nicht durch. Und online? Haim schaut irritiert drein und fragt: „In welchem Land leben Sie?

Die frühere Amtsleiterin berichtete im Mai dieses Jahres davon, dass es 33.000 unbeantwortete Mails geben würde. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor, sagt ein Stadtsprecher. Aber er räumt ein, dass ein Drittel der 170 vorgesehenen Stellen unbesetzt sei. Das soll sich bis zum Jahresende ändern. Zehn Sachbearbeiterinnen sollen eingestellt werden. Außerdem kündigt Nopper an, dass vorübergehend 16 Mitarbeiter aus anderen Abteilungen der Stadtverwaltung aushelfen sollen. 

Pantisano ist gespannt, ob das reichen wird oder nur Symbolpolitik ist angesichts der strukturellen Defizite. Der Stadtrat hat sich neulich mit dem zuständigen Ordnungsbürgermeister Clemens Maier über Sofortmaßnahmen unterhalten. Sie kamen überein, das Lotsen eine wichtige Rolle spielen könnten, um die Schlange zu verkürzen. „Ein Drittel der Menschen“, glaubt Pantisano, müssten nicht warten. Sogenannte Fiktionsbescheinigungen, also eine Art vorläufige Aufenthaltserlaubnis für Menschen aus Nicht-EU-Ländern, könnten auch online ausgefüllt werden. Als eine der wenigen Angelegenheiten. 

Keine Papiere, kein Arbeiten möglich

Haim jedenfalls muss sich einreihen, digital kann ihm niemand helfen. Er würde gerne weiterarbeiten, aber ohne gültige Papiere, die Ende August abgelaufen sind, sei es nicht möglich, die Angst seines Arbeitgebers vor Kontrollen durch den Zoll sei zu groß. Dass er und die anderen schon seit Monaten auf die Bearbeitung warten, findet er grotesk, geradezu irre. „Ich schäme mich für meine Stadt“, sagt der Israeli. „Das ist nicht nur ausländer-, sondern vor allem menschenfeindlich.“

Langsam begreift auch Nopper das Ausmaß und erkennt, dass das Image der Stadt darunter stark leidet, in der die Hälfte der Bürger einen Migrationshintergrund hat. Am Freitag hat der OB nun die Ausländerbehörde besucht, er sprach mit den Mitarbeitern und auch mit den Wartenden – allerdings nicht in der Schlage, sondern er stand drinnen in der Tür und redete nach draußen, wo die rat- und hilflosen Menschen stehen. Er verspricht schnelle Besserung und verweist auf die neuen Mitarbeiter. Nopper sagt: „Die Verwaltung zeigt, dass sie ihrer Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern gerecht wird.“ Pantisano kann über so wenig Empathie nur den Kopf schütteln. „Diese Distanz zwischen dem OB und den Ausländern sagt alles“, sagt Pantisano. Unterstützung hat auch die Landesregierung in Aussicht gestellt. Der Leiter der Staatskanzlei, Florian Stegmann, hat im Frühjahr einen Brief an Nopper geschrieben, verbunden mit einer Einladung. Doch der reagiert eher ausweichend. Das Land plant verschiedene Ausländerbehörden an einen Tisch zu bringen, damit sie voneinander lernen können. Oron Haim ist alles recht, wenn es etwas bewirken kann. Er hofft einfach, dass er bald sein Visum und seine Arbeitserlaubnis erhält.  

Überforderung von Ausländerbehörden kein Einzelfall

Dass Ausländerbehörden in Deutschland überfordert sind, ist kein Einzelfall. Auch in Berlin müssen Kunden ein halbes auf einen Termin warten, und Zeit online kürte die Darmstädter Behörde gar zum „schlimmsten Ort aller Zeiten“. Bei einer Umfrage des SWR unter 540 Behördenleitern gaben 200 Führungskräfte an, dass die Arbeitsbelastung in ihrer Behörde zu Verzögerungen oder Einschränkungen in der Sachbearbeitung führe. 82 Prozent gestanden ein, dass es Probleme mit der telefonischen Erreichbarkeit gebe. Und mehr als die Hälfte der teilnehmenden Behörden musste in diesem Jahr sogar den Betrieb phasenweise einschränken. 

Nach oben  Nach oben