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Vorlesestunde beim alten Philosphen

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Heute wird der Gymnasiallehrer Georg Zurmühl im Richard-Drautz-Seniorenheim 103 Jahre alt

Von Gertrud Schubert
Die Freude ist auf beiden Seiten groß: Georg Zurmühl und seine junge Vorleserin, Julia Erb vom Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium. (Foto: Helge Kempf)
Die Freude ist auf beiden Seiten groß: Georg Zurmühl und seine junge Vorleserin, Julia Erb vom Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium. (Foto: Helge Kempf)

Viel Glück und viel Segen! Heute gibt's zum Frühstück im Böckinger Richard-Drautz-Seniorenheim einen Kanon. Gertrud Sperr-Bay (93) stimmt ihn an, als kleinen Geburtstagsgruß für den ältesten Hausbewohner und inzwischen ältesten Heilbronner: Dr. Georg Zurmühl wird 103 Jahre alt. Besucher aus der Familie werden sich einstellen und auch ein hochoffizieller Gast aus dem Rathaus.Ob Julia Erb auch kommt? So ganz sicher war sie sich nicht. Es soll doch nicht zu viel werden für den verehrten alten Mann. Gewöhnlich erscheint die 19-jährige Abiturientin jeden Dienstag gegen 15.45 Uhr, "da ist die Schule vorbei", in Georg Zurmühls kleinem, gemütlichen Zimmer und bleibt ein Stündchen. Sie ist Vorleserin. Dienstags sie, mittwochs Elena Hamdorf. Treu halten die beiden Schülerinnen vom Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium die Tradition aufrecht. Beglückt erzählt Julia Erb von ihren Besuchen im Altenheim. Was die anderen in der Schule dazu sagen? "Die finden es cool." Der Kontakt kam über ihre Vorgängerin zustande, Ermunterung folgte vom Philosophie-Lehrer Meinrad Kreuzberger. Seit Sommer 2003 kündigt montags ein dicker Pfeil in Georg Zurmühls Kalender die Vorlesestunde am folgenden Nachmittag an. Das verstärkt die Vorfreude. Fällt die Stunde aus, fehlt das Zeichen. Doch Verständnis fehlt nie: "Dr. Zurmühl war doch Lehrer, die Schule geht vor." An den schönen Nachmittagen aber sitzen die beiden beieinander. Julia steckt ihren Kopf in Philosophisches und lernt so nach und nach die Gedankenwelt des Werte-Idealisten Kurt Port kennen. Das Werk des ehemaligen Cotta-Verlagsleiter ist unerschöpflich, fremd, aber spannend. Zeitlebens befasst sich Georg Zurmühl mit seinem Lieblingsphilosophen. In vielen Aufsätzen setzte sich der Böckinger Mathe-, Physik- und Sportlehrer mit Portes Philosophie auseinander. Die Zeitschrift "Die Pforte. Monatszeitschrift für Kultur" war ihm wohl eine Art Lebensbegleiter.Die beiden Vorleserinnen indes schätzen sich glücklich, so lebenswahr mit einem Denksystem vertraut zu werden. Julia lacht. An keiner Heilbronner Schule gibt es eine Philosophie-AG, aber bei Georg Zurmühl. Langsam muss sie vorlesen, jede Silbe betonen, sonst kommen die Worte nicht an. Immer wieder entstehen kurze Dialoge. Der alte Mann lebt in seiner philosophischen Welt. Seine Aufsätze gefallen Julia: "Sie sind gut zu verstehen."Doch es ist nicht nur die Philosophie, die fasziniert. "Die Atmosphäre hier." Julia schweigt kurz. Betritt sie Georg Zurmühls Zimmer, empfängt sie große Gelassenheit. "Er strahlt so Ruhe aus." Wenn sie nach der Vorlesestunde die Tür hinter sich zuzieht, geht sie mit einem guten Gefühl nach Hause: "Da bin ich ganz gelöst." In der Hand hält sie nicht selten einen Apfel. "Vom Nachtisch. Er schenkt mir immer seine Äpfel, weil er sie selber nicht essen kann." Und nicht alles Leben ist Philosophie. Aus Briefen erfährt die Vorleserin von Indien. Dort lebt ein Zurmühl-Sohn, zurzeit von seiner Schwester besucht. Überhaupt: die viele Post. Wunderbar. Nach dem Mittagessen sagt Georg Zurmühl bisweilen unmissverständlich: "Ich habe Post oben liegen." Das ist für seine Tischfreundin Gertrud Sperr-Bay stillschweigende Aufforderung, doch vorbeizuschauen. Seit den 60er Jahren schon währt ihre Freundschaft zum Ehepaar Zurmühl. Als Anfangs-Unruheständler verbanden sie Weltreisen: mit Hotelbussen durch Südafrika, Ägypten, Thailand und Malaysia. Im Richard-Drautz-Heim sind sie sich nicht erst seit dem Tod von Jutta Zurmühl ständige Begleiter geworden. "Wenn man so zurückbleibt, ist es wichtig, dass man Freunde hat", sagt die kluge ehemalige Krankenhaus-Oberin. Sie treffen sich beim Frühstück und Mittagessen, jeden Tag. Zur Gymnastik sind sie dienstags zur Stelle. Selbstverständlich. Und auch den Heimchor, in dem Gertrud Sperr-Bay den Ton angibt, lässt Georg Zurmühl niemals ausfallen. Da singen sie miteinander Volkslieder. Georg Zurmühl braucht weder Text, noch Noten: Er kann alles auswendig.

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