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Heilbronn
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Als der Milchmann noch durch die Oststadt fuhr

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Familien Stiefel und Kircher betrieben an der Jägerhausstraße ein Lebensmittelgeschäft − Jetzt wird abgerissen

Von unserem Redakteur Joachim Friedl
Das Gebäude an der Jägerhausstraße errichtete die Familie Stiefel in den ersten Nachkriegsjahren. Der Laden wurde zu einem kleinen Mekka in der Oststadt.
Das Gebäude an der Jägerhausstraße errichtete die Familie Stiefel in den ersten Nachkriegsjahren. Der Laden wurde zu einem kleinen Mekka in der Oststadt.

Der Heilbronner Osten verliert ein Stück seiner Geschichte. Die traditionsreiche Gärtnerei Schmich an der Jägerhausstraße wird seit einigen Tagen eben geschoben, das Nachbargebäude mit der terrakottafarbenen Fassade wird leer geräumt. Der kleine Lebensmittelmarkt und die urige Gaststätte Kircher sind geschlossen. Tristesse pur. Sie weichen einer Neubebauung. Das Oedheimer Bauunternehmen Neufeld baut hier sechs Häuser mit 46 Wohnungen.

Anfänge Heilbronn in der Nachkriegszeit. Die Stadt liegt noch in Schutt und Asche. Erwin und Rudolf Stiefel packen an. Gegenüber dem 1896 erbauten Lazarett, nach 1945 städtisches Krankenhaus, erstellen sie für die damalige Zeit ein stattliches Gebäude. Im Erdgeschoss eröffnen sie einen Lebensmittelmarkt mit Getränkeausschank. In einem Anbau ist die Schlosserei Brühl untergebracht. Die Geschäfte florieren. Es ist Wirtschaftswunderzeit. Ende der 1950er Jahre wird aus dem Getränkeausschank eine richtige Gaststätte.

Unter dem Dach wohnt die Familie Kugler. Hier erblickt am 21. Dezember 1954 Marianne das Licht der Welt. Da von Statur zerbrechlich, schenken die Stiefels ihr jeden Tag eine Banane. Wo gab es das damals? Heute ist Marianne Kugler-Wendt gestandenene Gewerkschafterin.

Frei Haus Aber nicht nur ihr geht es gut. Gerne machen die anderen Kinder auf dem Weg zur Pavillon-Grundschule hier halt. Franziska Stiefel verschenkt ab und zu Cola-Lutscher mit abgebrochenem Stil. Was für ein Genuss. Da spielte es keine Rolle, wenn das süße Teil versehentlich einmal im Hals steckenblieb. Es löste sich ja von alleine auf.

Ein Begriff in der Oststadt ist Franz Renner. "Der Milchmann kommt", klingt noch heute vielen in den Ohren. Der freundliche Stiefel-Mitarbeiter liefert in einem umgebauten, grauen VW-Bus Waren frei Haus: Eier, Milch, Käse, Wurst. Ein Service der besonderen Art und für Hausfrauen willkommene Gelegenheit für einen kleinen Plausch.

In-Kneipe 1968. Die Stiefels verschlägt es in den Raum Hannover. Manfred Kircher, von Beruf Koch, erwirbt das Gebäude und führt das Lebensmittelgeschäft und die Gaststätte weiter. Der Laden ist voll auf das Krankenhaus ausgerichtet. Stationshilfen kommen mit Einkaufszetteln, Besucher kaufen Mitbringsel für die Kranken. Zwei Mal pro Woche fährt Sohn Walter, der später das Geschäft übernimmt, Lebensmittel aus. Es läuft wie geschmiert.

Dann zieht 1989 das Krankenhaus auf den Gesundbrunnen. Die Laufkundschaft wird weniger − und auch die Arbeit für die drei Verkäuferinnen. Der "Kircher" wird zum reinen Familienbetrieb. Als 2005 die Stadtbahn nach Öhringen fährt, wird das langsame Sterben des Ladens eingeläutet. Aber die Gaststätte mit dem kleinen Biergarten blüht auf. Sie mausert sich zu einer In-Kneipe mit schwäbischer Küche. Wer gerade in der Nähe ist, kommt zum Essen vorbei. Gäste der geschlossenen Blücher-Stube finden eine neue Einkehr. Dass es jedermann schmeckt, dafür sorgt in der Küche Roselinde Model, von den Gästen liebevoll nur "Fräulein Rose" genannt.

Wehmut In der fast leeren Wirtschaft sitzen vor einer Woche Herbert Kübler und Karlheinz Kirchler. Die Stammgäste hängen der Vergangenheit nach: "Eine solche Kneipe findet man nicht mehr oft." Der Ventilator an der Decke dreht sich nicht mehr. Die Wände sind kahl. Walter Kircher nippt an seinem Kaffee: "Es tut schon ein bisschen weh", sagt der Mann leise, der früher Fußball beim VfR Heilbronn, beim VfB Sontheim und in Beilstein gespielt hat. Er wird jetzt, mit 65, das Leben genießen. Unter anderem bei den Altherren in Beilstein und auf dem Tennisplatz in Horkheim. Und mit Lebensgefährtin Roselinde Model. An der Jägerhausstraße beginnt eine neue Zeit.

Walter Kircher vor seinem Lebensmittelgeschäft. Mit netten Sprüchen auf Schiefertafeln verabschiedet er sich von seinen Kunden.Fotos: Guido Sawatzki
Walter Kircher vor seinem Lebensmittelgeschäft. Mit netten Sprüchen auf Schiefertafeln verabschiedet er sich von seinen Kunden.Fotos: Guido Sawatzki
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