Wenn es zuhause unerträglich ist
Region Heilbronn - Es war wie im Film: Als die Mutter im Kinderzimmer nach ihrer vermeintlich schlafenden Tochter schaute, fand sie unter der Bettdecke nur weitere Decken. Von der 13-Jährigen keine Spur. In einem Abschiedsbrief schrieb das Mädchen aus Heilbronn-Böckingen von fehlender Aufmerksamkeit. Ebenfalls verschwunden war die zwölfjährige, beste Freundin aus Neckargartach. So geschehen vor wenigen Tagen in Heilbronn.

„Die meisten Ausreißer sind innerhalb einer Woche zurück, viele am nächsten Tag“, weiß Dieter Ackermann, Leiter des Jugenddezernats der Polizeidirektion (PD) Heilbronn. Rund 180 Vermisstenfälle im Stadt- und Landkreis bearbeiten er und seine Kollegen pro Jahr – darunter auch einige Jugendliche, die mehrfach Reißaus nehmen. Bis Mitte August zählte die PD für dieses Jahr 168 Fälle – zu Anzeigen wegen einer Straftat kam es nicht.
Bemerkenswert: In den Ferien steigt die Zahl der Ausreißer deutlich an. 20 waren es in Stadt- und Landkreis seit Ferienbeginn Ende Juli. Ackermanns Erklärung: „Es fallen die festen Strukturen des Tages wie Schule weg, die Probleme, die in Familien herrschen, treten deutlicher zu Tage.“
Streitigkeiten
Die jungen Abgänger, wie sie die Polizei nennt, sind zwischen elf und 17 Jahre alt. „Was dabei ins Auge springt, zwei Drittel der Vermissten sind Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren.“ Dieter Ackermann: „Jungs dürfen oft von vorn herein mehr, bei Mädchen sind die Eltern strenger.“ Deshalb fühlten die sich gegängelt, suchten Freiheiten. „Meiner Erfahrung nach sind viele Eltern überfordert, wenn aus den Mädchen Jugendliche werden.“
Familienstreitigkeiten stehen ganz oben bei den Reißausgründen. „Die Anlässe reichen vom nicht aufgeräumten Zimmer bis hin zum ersten Freund.“ Im aktuellen Heilbronner Fall lebt die Mutter mit ihrem neuen Lebensgefährten zusammen, ein weiteres Familienmitglied ist hinzugekommen. Die 13-Jährige hat ein Geschwisterchen – und fühlte sich vernachlässigt.
Die beiden Freundinnen versteckten sich fünf Tage lang in Heilbronn. Bei „einem guten Freund“, wie die Zwölfjährige der Polizei erzählt. „Typisch“, sagt Ackermann. „In der Regel kommen die Ausreißer in ihrem Umfeld, bei Freunden oder Bekannten unter. Die wenigsten werden Weltenbummler.“ Bei einem Treffen in der Heilbronner Innenstadt überredeten die Polizeibeamten die beiden, kurzfristig in einer Jugendhilfeeinrichtung Unterschlupf zu finde. Denn nach Hause wollten sie auf gar keinen Fall. Hier arbeiten die Polizei und das Jugendamt eng zusammen.
Einigung
„Unsere Arbeit beginnt, wenn die Kinder wieder da sind“, sagt Andrea Abraham, Fachkoordination Jugendhilfe beim Heilbronner Amt für Familie, Jugend und Senioren. Es wird geprüft, ob die Familie bereits bekannt ist, es finden Gespräche mit allen Beteiligten statt. Die möglichen Maßnahmen reichen von der Erziehungsberatung bis zur Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. „Unser Ziel ist es allerdings, eine Einigung zu erzielen, das Familiensystem wieder zu stabilisieren.“ Ausnahme: Wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist.
Die Zwölfjährige aus Neckargartach ist inzwischen wieder bei ihrer Mutter – die Regeln in der Unterkunft waren ihr dann doch zu streng. Allerdings sieht Jugenddezernatsleiter Dieter Ackermann hier dringend Hilfsbedarf: „Das Mädchen fühlt sich gegängelt von ihrer Mutter, beide Seiten wollen gerade nicht nachgeben.“
Die 13-Jährige bleibt vorerst in der Jugendhilfeeinrichtung. „Das Jugendamt versucht jetzt, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln“, sagt Ackermann. Beide Ausreißerinnen haben hoch und heilig versprochen, nicht mehr abzuhauen.