Skandalarzt vor Gericht: Vorwürfe wie aus einem Horrorfilm
Es sind schreckliche Vorwürfe: falsche Diagnosen, unnötige Therapien und Hirn-Operationen. 20 Jahre praktizierte der niederländische Neurologe Jansen fast ungestört, auch in Heilbronn. Jetzt steht sein spektakulärer Prozess bevor.
Der Vorwurf: J. S. soll mit falschen Diagnosen und Therapien Dutzenden von Patienten schweres Leid zugefügt haben. Der Angeklagte arbeitete mit deutscher Zulassung von Juni 2011 bis 4. Januar 2013 auch am SLK-Klinikum Am Gesundbrunnen. Doch in Almelo geht es nur um Patienten in den Niederlanden. Jetzt äußerte Janßen sich zum ersten Mal öffentlich zu der Affäre und hat den Vorwurf zurückgewiesen, Patienten reihenweise falsche Diagnosen gestellt zu haben. Er habe sich nichts vorzuwerfen, sagte der Neurologe am Freitag in einem Disziplinarverfahren in Zwolle.
Der Prozess beginnt zehn Jahre, nachdem von ersten Verfehlungen des Arztes die Rede war. In all den Jahren praktizierte er ungestört an mindestens sieben Kliniken, darunter auch Worms. Dort soll er noch 2010 eine Patientin bei einer unnötigen Rückenmark-Punktion schwer geschädigt haben.
Die Vorwürfe der Anklagebehörde gegen J. S. lesen sich wie das Drehbuch zu einem Horrorfilm: Von Anfang der 1990er Jahre bis 2003 soll er am Krankenhaus „Medisch Spectrum Twente“ bei mehr als 200 Patienten falsche Diagnosen gestellt haben. Wie ein Gott in Weiß soll er geurteilt haben: Alzheimer oder MS.
Selbstmord nach Fehldiagnose
Für einen 54-jährigen Mann klang die Diagnose wie ein Todesurteil. Doch statt Alzheimer hatte der Mann ein Burnout-Leiden. Das erfuhr er erst, nachdem er jahrelang schwerste Medikamente geschluckt hatte. So soll es vielen ergangen sein. Laut Staatsanwaltschaft erlitten sie bleibende körperliche und psychische Schäden, eine Frau beging Selbstmord.
Für den Prozess wählte die Staatsanwaltschaft neun Fälle aus. Außerdem klagt sie Jansen wegen Diebstahls, Urkundenfälschung und Unterschlagung an. Er soll auch unerlaubte Obduktionen und Gehirnoperationen ausgeführt haben. Das weist Jansen strikt zurück. Die Medien kriminalisierten ihn, klagte er in der Zeitung. Auf den Fotos sieht man einen schlanken Mann in lässiger Freizeitkleidung, die Augen blicken sorgenvoll unter einer grau-melierten Haartolle.
Doch der umstrittene Arzt beteuerte, er habe nur das Beste gewollt. „Im Nachhinein bedaure ich nichts.“ Wenn seine Patienten gelitten hätten, tue ihm das aber leid.
Sehr offen sprach er vor den Richtern von einer persönlichen Krise Ende der 90er Jahre. „Ich war süchtig nach Medikamenten, aber ich funktionierte redlich“, sagte der Niederländer, der wieder unter seinem ursprünglichen Namen Jansen auftrat. Jahrelang hatte er auch den Namen seiner Mutter - Steur - getragen, was in den Niederlanden zulässig ist.
Doch Jansen droht auch eine Gefängnisstrafe von bis zu zwölf Jahren. Ab Montag muss er sich im wohl größten medizinischen Strafprozess in der Geschichte des Landes für insgesamt 21 Anklagepunkte verantworten.
Kultur des Schweigens
Die Affäre deckte auch eine beispiellose Kultur des Schweigens in der Krankenhauswelt auf. Der einst renommierte Neurologe musste 2003 die Klinik in Enschede verlassen, als er beim Diebstahl von Rezepten erwischt worden war. Kurz danach sprachen Kollegen bereits von Fehldiagnosen. Seit 2005 meldeten sich 220 Ex-Patienten, 80 sollen bereits entschädigt worden sein.
Doch erst 2009 leitete die Staatsanwaltschaft unter zunehmendem Druck der Öffentlichkeit Ermittlungen ein - und auch das Krankenhaus startete eine Untersuchung. Die Gesundheitsbehörde zwang ihn, sich aus dem niederländischen Ärzteregister streichen zu lassen. Dafür verzichtete sie auf ein Disziplinarverfahren.
Daher konnte J. S. bis Ende 2012 ungestört weiter praktizieren - in Deutschland. Warum auch nicht?, fragte er jetzt erstaunt. „Ich bin doch nicht verurteilt. Ich sah meine Qualitäten.“
In Deutschland ermittelt der Staatsanwalt in Worms gegen J. S., nachdem eine Patientin nach einer Wirbelsäulen-Punktion gelähmt war und wenig später starb. Die Staatsanwaltschaft Heilbronn ist immer noch in Vorermittlungen, da eine Patientin über Schmerzen nach einer Punktion klagte. Die SLK-Kliniken Heilbronn haben 443 Behandlungsfälle von Dr. J.S. extern prüfen lassen. Das Ergebnis: SLK-Patienten seien durch ihn nicht zu Schaden gekommen.
Größter medizinischer Kriminalfall
Groß ist das Interesse der Niederländer an dem Prozess. Jeichien de Graaff, Sprecherin von Staatsanwältin Marjolein van Eykelen, bezeichnet die Vorfälle gegenüber der Heilbronner Stimme als "größten medizinischen Kriminalfall" in der Geschichte des Landes.
Warum J. S. erst 2012 angeklagt wurde? Opferanwalt Yme Drost begründet dies mit der Größe des Prozesses. Er sieht keine Versäumnisse bei der Staatsanwaltschaft. Hinzu komme, dass einige Opfer erst nach Jahren den Mut gefasst hätten, sich zu Wort zu melden, meint de Graaf.
Wie Drost bestätigt, hat J. S. an seine Opfer Briefe verschickt, in denen er die Vorfälle bedauert. "Ich glaube, er hat es für sich selbst getan und nicht für die Opfer", sagt Drost. In Almelo sind 16 Verhandlungstermine angesetzt. Das Urteil wird im Februar 2014 erwartet. J. S. drohen bis zu zwölf Jahre Haft. flu/jükü/lsw
Hintergrund: Disziplinarverfahren eröffnet
Gegen den niederländischen Skandalarzt ist am Freitag ein Disziplinarverfahren eröffnet worden. Er habe den Patienten „unsäglich viel Leid angetan“, sagte der Anwalt der Kläger, Yme Drost, vor dem medizinischen Disziplinargericht in Zwolle. „Einige haben ihr Haus verkauft, umbauen lassen oder Selbstmord erwogen.“
Der 68-Jährige soll bis 2003 im einem Krankenhaus in Enschede Dutzenden Patienten gesagt haben, sie hätten unheilbare Krankheiten, obwohl das gar nicht stimmte. Verhandelt werden in dem Disziplinarverfahren aber nur fünf Fälle, die übrigen sind nach dem Disziplinarrecht verjährt. lsw