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Igel-Leistungen in der Kritik

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Für Ärzte sind sie eine lukrative Einnahmequelle, doch laut einer Studie nutzen die meisten von ihnen nichts: Unsere Kollegin hat sich mit den "individuellen Gesundheitsleistungen" befasst.

Von unserer Redakteurin Valerie Blass
Selbstzahlerleistungen haben sich zu einem Geschäftsmodell entwickelt, heißt es beim Wissenschaftlichen Institut der AOK. "Für manche Ärzte mögen sie eine lukrative Einnahmequelle bedeuten."Foto: Halfpoint/Fotolia
Selbstzahlerleistungen haben sich zu einem Geschäftsmodell entwickelt, heißt es beim Wissenschaftlichen Institut der AOK. "Für manche Ärzte mögen sie eine lukrative Einnahmequelle bedeuten."Foto: Halfpoint/Fotolia

"Wir können mehr, als Ihre gesetzliche Krankenkasse im Rahmen der Kassensprechstunde bezahlt." So heißt es auf dem Titelblatt einer Broschüre, die in einer Augenarztpraxis in der Region ausliegt. In dem Faltblatt ist aufgelistet: Früherkennung des Grünen Stars, 20 Euro, Hornhauttopographie, 50 Euro, Optische Biometrie, 70 Euro. Alles sogenannte Igel-Leistungen.

Die Abkürzung steht für "individuelle Gesundheitsleitungen" − also ärztliche Diagnose- oder Behandlungsmethoden, die der Patient aus eigener Tasche bezahlen muss, wenn er sie in Anspruch nehmen möchte. Im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sind sie nicht enthalten, deshalb kommen die Kassen dafür auch nicht auf.

Mehrere hundert Leistungen

Seit 1998 dürfen Ärzten ihren Patienten Igel-Leistungen anbieten. Von ein paar Dutzend Zusatzangeboten Ende der 1990er Jahre ist der Katalog inzwischen auf mehrere Hundert angewachsen. Das Kostenspektrum reicht dabei von unter zehn bis zu Hunderten von Euro. Einige der Leistungen sind medizinisch sinnvoll, gehören aber nicht zu den Aufgaben der solidarisch finanzierten GKV, denn sie zählen in den Bereich privater Lebensführung − etwa Impfungen vor Fernreisen oder die Ausstellung von Sportattesten. Igel umfasst aber auch Leistungen, über deren Nutzen Zweifel bestehen oder die noch nicht genügend erprobt sind.

Trotzdem: Der Igel-Markt boomt. Das hat eine repräsentative Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) Anfang des Jahres ergeben. Die Experten haben ein Volumen von 1,03 Milliarden Euro errechnet. Laut Techniker Krankenkasse (TK) geben gesetzlich Versicherte jährlich sogar rund 1,5 Milliarden Euro dafür aus. "Selbstzahlerleistungen haben sich zu einem Geschäftsmodell entwickelt, für manche Ärzte mögen sie eine lukrative Einnahmequelle bedeuten", heißt es beim Wido. Es gebe zahlreiche Ratgeber und Seminare, die sich mit den Themen "Marketing für Arztpraxen" und dem Verkauf von Igel-Angeboten befassten.

Das Resultat: Einem Drittel der Befragten ist im Jahr zuvor schon einmal eine Igel-Leistung angeboten oder in Rechnung gestellt worden. Das Internetportal Igel-Monitor, finanziert vom Spitzenverband der Kassen, prüft mit Methoden der evidenzbasierten Medizin − also auf Wirksamkeitsnachweisen beruhend − die am häufigsten privat angebotenen und von den Versicherten nachgefragten Leistungen. Das Ergebnis: Nur wenige schneiden mit "tendenziell positiv" ab.

Die Wido-Analyse hat ergeben: Frauenärzte "igeln" am häufigsten, gefolgt von Augenärzten. Ultraschalluntersuchungen und Leistungen zur Früherkennung des Grünen Stars (Messung des Augeninnendrucks) machten allein über 40 Prozent des Marktes aus. Patienten, die über ein höheres Einkommen und eine gute Schulbildung verfügen, bekommen vom Arzt überdurchschnittlich häufig private Ergänzungsleistungen angeboten. Zwischen Alter, der gesundheitlichen Verfassung des Patienten und der Häufigkeit von Igel-Angeboten besteht hingegen kein Zusammenhang. Das vermittle "den Eindruck, dass es nicht allein darum geht, ob eine Zusatzleistung medizinisch sinnvoll ist, sondern dass auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Patienten beurteilt werden", folgern die Autoren von Wido.

Sparinstrument der Kassen?

Am Igel-Monitor gibt es regelmäßig Kritik − Ärzte argumentieren zum Beispiel, er sei ein Sparinstrument der Kassen. Eine unabhängige Kontrolle über Qualität und individuellen Nutzen der angebotenen Leistungen gibt es nicht. Das hält die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Stuttgart auch nicht für nötig. Ihr Sprecher Kai Sonntag gibt zu bedenken: "Viele Patienten fragen Igel-Leistungen selbst nach, zum Beispiel im Bereich der Naturheilkunde." Damit ein Arzt sie überhaupt abrechnen könne, müsse er einen Behandlungsvertrag schließen. Sonntag: "Patienten haben genügend Möglichkeiten, sich zu informieren und zu entscheiden, ob sie das Angebot in Anspruch nehmen möchten."

Doch es gibt offenbar auch Fälle, in denen Kassenpatienten nur dann zeitnah einen Termin beim Facharzt bekommen, wenn sie eine Igel-Leistung gleich mit buchen. "Selbstzahler-Sprechstunde" heißt das in der Broschüre aus der Augenarztpraxis in der Region, die der Heilbronner Stimme vorliegt. Darin steht geschrieben: Termine in der Kassensprechstunde seien mit langer Anmeldezeit verbunden. Um kurzfristige Untersuchungen und Behandlungen zu ermöglichen, "bieten wir Ihnen eine sogenannte Selbstzahler-Sprechstunde an". Darunter sind die Konditionen für eine Reihe von Untersuchungen aufgeführt: Preise zwischen 43 und 70 Euro − "je nach Aufwand und Alter".

Das wertet Sonntag als Regelverstoß: "Selbstzahler-Sprechstunden sind zugelassen. Nicht zugelassen ist es, Patienten hineinzudrängen." Wenn die KV Kenntnis über eine solche Offerte erhalte, werde sie aktiv und mahne den Arzt, das zu unterlassen.

 

Übersicht und Bewertung von Leistungen:

Von den 35 individuellen Gesundheitsleistungen, die im Rahmen des Igel-Monitors bereits untersucht wurden, schneiden vier mit der Bewertung "tendenziell positiv ab", das Siegel "positiv" bekommt keine einzige. Hier eine Übersicht:

Akupunktur zur Migräneprophylaxe: Studien hätten ergeben, heißt es, dass die Akupunktur Migräneschmerzen ebenso gut lindere wie Medikamente, deren Nutzen nachgewiesen ist. Außerdem habe die Behandlung mit Akupunktur weniger Nebenwirkungen als die mit Medikamenten.

Laser-Behandlung von Krampfadern: Laser und Operation seien in etwa gleich nützlich, die Krampfadern würden gründlich und dauerhaft beseitigt. Was Nebenwirkungen wie Blutungen, Schwellungen und den Schmerzmittelverbrauch angehe, "sehen wir die Lasertherapie insgesamt etwas im Vorteil", so die Autoren.

Lichttherapie bei saisonal depressiver Störung: Dazu heißt es: Auch wenn die gefundenen Untersuchungen "kein einheitliches Bild zum Nutzen liefern", kämen einige zu dem Schluss, dass die Lichttherapie depressive Beschwerden etwas besser lindere als eine Behandlung, die zum Vergleich simuliert wurde. "Kopfschmerzen, Müdigkeit und ähnliche Beschwerden treten dagegen nicht häufiger auf als bei einer Scheinbehandlung."

Stoßwellentherapie bei Fersenschmerzen im Fußsohlenbereich: "Werden Schallwellen mit hoher Energie eingesetzt, dann geht es etwa jedem zweiten Patienten nach einigen Wochen besser, das heißt, er hat deutlich weniger Schmerzen." Unerwünschte Begleiterscheinungen wie Schwellungen und Rötungen seien gering. Insgesamt überwiege also der Nutzen.

Augeninnendruckmessung: Mit dem Prädikat "tendenziell negativ" wird von der Untersuchung zur Vorsorge und Früherkennung eines Glaukoms (Grüner Star) abgeraten, denn: "Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass die Augeninnendruckmessung ein Glaukom nicht zuverlässig vorhersagen oder diagnostizieren kann."

Toxoplasmose: Abgeraten wird von vier Leistungen, zu denen das Angebot zählt, Schwangere auf die Infektionskrankheit Toxoplasmose untersuchen zu lassen, die den Fötus schädigen kann. Ein erster Test gebe keine klare Auskunft, sondern führe fast immer zu weiteren Tests, heißt es. Bei Fruchtwasser-Untersuchungen könne es in einem von 200 Fällen zu Fehlgeburten kommen. "Eine Schwangere kann sich schützen, indem sie auf Hygiene beim Kontakt mit Katzen achtet und nur durchgegartes Fleisch isst."

Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung: Auch der fällt bei den Testern durch. "Mit Ultraschalluntersuchung sterben gleich viele Frauen an Eierstockkrebs wie ohne Untersuchung." Studien zeigten jedoch, dass Frauen durch Fehlalarme unnötig beunruhigt und sogar gesunde Eierstöcke entfernt würden.

Professionelle Zahnreinigung: Der Igel-Monitor bemängelt, der tatsächliche Nutzen sei kaum untersucht. Risiken gebe es jedoch auch keine. vbs

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