Feinschliff – ganz ohne Gehalt
Mit fast 90 Jahren arbeitet Fritz Gessmann immer noch in seiner Schreinerei.
Acht Uhr in der Früh. Im Industriegebiet von Bönnigheim ein Tag wie jeder andere. Für Fritz Gessmann sowieso. Seit mehr als 70 Jahren ist der Schreinermeister im eigenen Betrieb tätig. Selbst mit 89 Jahren von morgens bis abends. Rente mit 90? Für den rüstigen Holz-Liebhaber noch lange kein Thema.
Die erste Kanne Kaffee ist gebrüht, der Tag beginnt in dem kleinen Büro mit einem Blick in die Tageszeitung. „Das war immer so und bleibt auch so.“ Dann aber geht es los. Fritz Gessmann kümmert sich heute um die Restaurierung eines alten Schrankes und mehrerer Antiquitäten. Gerade beim Restaurieren hilft das Know-How des Seniors. „Die ganz schweren Sachen kann ich nicht mehr schleppen, aber filigrane Dinge mache ich gerne.“ Es herrscht eine heimelige Atmosphäre in der Schreinerei. Früher ging es hier geschäftiger und umtriebiger zu. Heute ist man fast unter sich. Im Hintergrund läuft SWR 3 – das Musikprogramm bestimmt sein Sohn Thomas Gessmann (49). Sonst aber hat der Senior die Zügel in der Hand – der Innenausbau- und Schreinereibetrieb läuft nach wie vor auf seinen Namen. „Eine vorzeitige Übergabe würde 10 000 Euro kosten. Die sparen wir uns. Wenn ich mal tot bin, wird’s billiger“, sagt der knitze Schwabe ganz pragmatisch.

Wer sieht, wie er liebevoll und akribisch ein Projekt nach dem anderen abarbeitet, der vermutet, dass sich das mit der Übergabe noch eine Weile hinziehen kann. „Ich will arbeiten, so lange ich kann“, macht der Schreinermeister, der im Juni 90 Jahre alt wird, deutlich. Auf dem Sofa sitzen und den Tag an sich vorbeiziehen lassen, das ist nichts für den Schreiner aus Leidenschaft. Holz zuschneiden, feilen, sägen – das ist seine Welt. Jeder Handgriff sitzt. Den wachen Augen hinter der Brille entgeht nichts. Ein Handwerker der alten Schule. Blaue Hosenträger, Kurzarm-Hemd, der Bleistift steckt in der Hemdtasche. Konzentration auf das Wesentliche. Zeit für eine erste Pause.

Rückblick auf sieben Jahrzehnte Handwerksarbeit. Früh musste Fritz Gessmann Verantwortung übernehmen. 1941 begann er im heimischen Betrieb seine Ausbildung, machte die Gesellenprüfung. Der Weg war vorgezeichnet. Auch wenn die heimliche Leidenschaft der Fliegerei gehörte. Bei einem ehemaligen Flugschüler von Otto Lilienthal machte der Bönnigheimer seinen Flugschein und genoss die Sonntage in der Luft – nach der Sechs-Tage-Woche in der Schreinerei. „Ich hab’ extra unter der Woche länger gearbeitet, damit ich am Wochenende zum Flugdienst nach Ludwigsburg konnte. Da bin ich dann immer mit dem Fahrrad hingefahren“, erinnert er sich.
Fliegen als Leidenschaft
Doch die luftigen Träume waren schnell ausgeträumt. Gegen Ende des Krieges wurde Gessmann eingezogen, keiner aus seiner 80-köpfigen Einheit war über 18 Jahre alt, nur fünf von ihnen überlebten. Nach zweijähriger Gefangenschaft in Frankreich kehrte er zurück. Schon nach kurzer Zeit, der Vater war früh gestorben, musste Fritz Gessmann ran. Und das mit großem Erfolg. Früh erkannte der Bönnigheimer, was nach dem Krieg gebraucht und nachgefragt wurde. Erst wurden Bauernmöbel hergestellt, danach Radiogehäuse für Philips und dann kam die große Zeit der Gastronomie-Aufträge. Zehn Mitarbeiter hatte man damals – der Laden brummte. Innenausstattungen für Gaststätten im ganzen Land – dazu im Jahr 1983 die Gastronomie-Bestückung bei der Landesgartenschau in Lörrach mit 400 Stühlen, 180 Tischen und 300 Meter Bänken. „Es gab Zeiten, da haben wir 36 Stunden durchgearbeitet, weil so viel los war.“

Viele Gastronomie-Aufträge kamen von Dinkelacker, selbst in München entstanden Wirtshäuser mit einer Innenausstattung aus Bönnigheim. Doch mit der Umstellung auf den Euro begann die Krise in der Gastronomie. Die Brauereien zogen sich vielfach zurück, einige dubiose Wirte zahlten nicht, Verluste entstanden. „Wir haben geliefert, manche Kunden haben unsere Tische und Bänke weiterverkauft und sind dann verschwunden. Und wir haben nichts bekommen“, erzählt Thomas Gessmann.
Exklusive Einzelanfertigungen
Heute ist man Nischenanbieter – ein exklusiver und individueller. Viele Privathäuser berühmter Persönlichkeiten hat Thomas Gessmann, der in Berlin Architektur studiert hat, ausgestattet. Nach der Schreinerlehre und Meisterprüfung stieg er vor 15 Jahren in den Betrieb ein. Auch die Innenausstattung im Schloss in Bönnigheim hat sein Betrieb gestaltet, im vielfach preisgekrönten Weingut Dautel entstand unter seiner Regie der anspruchsvolle Degustationsraum. Zwei weitere Mitarbeiter sind im Betrieb angestellt und kümmern sich um Großaufträge – gerade erst wurden in einem noblen Haus für eine Treppe drei Nussbaumstämme verarbeitet. Die Kunden schätzen die Handwerkskunst – und die Diskretion, denn Namen der prominenten Auftraggeber aus Unternehmerkreisen kommen ihm nicht über die Lippen. Sie schätzen das, was für die Branche langfristig gesehen zum Problem wird. „Kleine Schreinereien, die alles abdecken, werden immer weniger“, sagt Thomas Gessmann.
Keinen Tag krank
Sein Vater lässt sich davon nicht beeindrucken. Fritz Gessmann blickt nach vorn. Immer noch. Auch jetzt, wo an der Hobelbank die Späne fliegen. „Es ist stets eine Befriedigung, wenn man sieht, wie etwas fertig wird“, sagt er. Mittagspause. Täglich geht es um 12 Uhr heim, seine Frau Erna (82) kocht für ihn. Gemeinsam haben die beiden viel aufgebaut. In früheren Jahren wurden nach der Arbeit in der Werkstatt zusammen noch 85 Ar Weinberge bewirtschaftet. „Feierabend war erst, wenn es dunkel wurde“, erinnert sich Fritz Gessmann. Heute geht es natürlich etwas ruhiger zu. Auch nach dem Mittagessen. „Dann ruhe ich mich bis halb zwei aus“, sagt er fast schon entschuldigend. Ehe es im Betrieb bis 17 Uhr weitergeht.
Eine Fünf-Tage-Woche für einen 89-Jährigen. Und was verdient man dabei? „Gehalt gibt’s keines. Das geht alles in einen Topf“, sagt er schmunzelnd. Solche Mitarbeiter hat man gerne. Noch dazu ohne einen Krankheitstag in sieben Jahrzehnten. „Wenn man zum Arzt geht, dann findet der immer was, weil er ja Kunden sucht. Das mach’ ich nicht“, lautet das kernige Lebensmotto des Schreiners. Er ist fit. Auch an diesem Nachmittag. Weiter wird gearbeitet. Vieles hat sich geändert in den sieben Jahrzehnten. Einst jagte ein Auftrag den anderen – ganz ohne Angebote. Und die Buchhaltung der Jahre 1948 bis 1955 passte in ein kleines Taschenbüchlein. „Dann aber kamen die Beamten, und alles wurde komplizierter. Heute ist es eine unheimliche Bürokratie“, sagt Fritz Gessmann und blickt fast ein wenig resignativ auf den Papierstapel im Büro.
Doch der Optimismus hat ihn schnell wieder. „Ich arbeite noch immer am liebsten mit Massivholz. Letztens wollte ein Kunde einen Schrank mit je zwei Ästen drin.“ Man tut, was man kann. Bald wird er 90. Die nächsten Ehrungen warten. „Ich will keine Urkunden mehr. Alle entsprechenden Anfragen hab’ ich in den Papierkorb geworfen.“ Schaffen ist das Zauberwort. Und bleibt es. Auch am Montag wieder ab 8 Uhr in der Früh in seiner Schreinerei in Bönnigheim.
Fünfte Generation
Die Schreinerei Gessmann in Bönnigheim hat eine lange Tradition. Schon der Großvater von Fritz Gessmann hatte gegenüber dem Bönnigheimer Schloss eine Schreinerei. Ob der fünften Generation eine sechste folgt? Noch ist in dem kleinen Familienbetrieb kein Nachfolger für Thomas Gessmann (49) in Sicht.