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Heilbronn
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Als das Zehntel noch 50 Pfennig kostete

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Er hat Höhen und Tiefen miterlebt: von der mit Glasscherben übersäten Kaiserstraße über die 2001 installierten Stadtbahn-Sperrgitter, zugeparkte Seitenstraßen, Polizei-Aufmärsche, Dauerregen und Hitze. Marktmeister Matthias Proch hat 36 Weindörfer organisiert, dieses ist sein letztes.

Von unserem Redakteur Kilian Krauth
So sieht das Fest beim ersten Durchlauf 1971 aus. Das Herzstück war eine alte Boxautohalle.
So sieht das Fest beim ersten Durchlauf 1971 aus. Das Herzstück war eine alte Boxautohalle.

Wo sind denn die Klopapierrollen, wo das Kabel, der Stecker, die Buchse − und überhaupt: "Kann man die Musik nicht ein bisschen leiser drehen?" − "Nein, lauter!" Wenn Matthias Proch im Weindorf eine Runde drehen will, kommt er nicht weit. Alle paar Meter wird der Marktmeister der Heilbronn Marketing GmbH (HMG), der sich selbst "Mädchen für alles" nennt, um Rat gefragt. Den 64-Jährigen, der schon von weitem an seinem Lachen zu erkennen ist, scheint nichts aus der Ruhe zu bringen.

Dieser Tage wirkt er nachdenklich. Seit 1980 hat Proch 36 von 46 Weindörfern organisiert, dieses ist sein letztes. Am 2. Februar 2017 wird Proch 65 Jahre alt, noch vor dem 47. Weindorf tritt er in den Ruhestand. Was danach kommt? Der verheiratete Vater zweier Kinder, der täglich mit dem Fahrrad von Obereisesheim nach Heilbronn zur Arbeit fährt, beweist Humor: "Dann setze ich mich endlich mal in Ruhe mit meiner Familie an einen Tisch im Rathaus-Innenhof und trinke einen Wein."

Chronist

Lange trinkt man aus kleinen Gläsern, inzwischen sind Stielgläser für höhere Qualitäten angesagt.
Lange trinkt man aus kleinen Gläsern, inzwischen sind Stielgläser für höhere Qualitäten angesagt.

Wer sich zu Proch gesellt, kann viel erfahren, der eloquente Badener ist eine wandelnde Weindorf-Chronik. Was er nicht im Kopf hat, schlägt er nach: in einem Ordner oder in einer der 46 Weindorf-Broschüren, die er alle auf Lager hat. Dieser Mann hat viele Höhen und Tiefen miterlebt: von der mit Glasscherben übersäten Kaiserstraße über die 2001 installierten Stadtbahn-Sperrgitter, zugeparkte Seitenstraßen, Polizei-Aufmärsche, Dauerregen und Hitze.

Und dennoch: Unterm Strich überwiegt das Positive. "Dieses Fest ist eine Erfolgsgeschichte," sagt der 64-Jährige. Er weiß auch, wie es dazu kommt, nämlich "eher durch Zufall": Anlässlich der Heimattage 1971 werden parallel zum damaligen Wengerter-Hauptfest, dem Heilbronner Herbst auf der Theresienwiese, auf dem Marktplatz ein paar Ausschankhütten aufgestellt: eigentlich einmalig. Aber weil sich das Ganze als Renner erweist, wird es zur Dauereinrichtung. Während auf der Theresienwiese aus 0,5-Liter-Schoppen konsumiert wird, gibt man sich am Marktplatz feiner. Hier werden kleine Zehnteles-Gläser gereicht. Im Ausschank sind 68 verschiedene Tropfen zum Preis von 50 Pfennig bis zu einer Mark.

Herzstück ist eine mit Stühlen und Tischen ausgestattete Boxautohalle des Schaustellers Erich Grund. Drumrum stellen sieben Genossenschaften Häuschen auf: Heilbronn, Flein, Nordheim, Erlenbach, Lauffen, Talheim, Schwaigern. Abgerundet wird das improvisierte Dorf durch einen Imbiss- und einen Mandelstand. Vom Erfolg sind alle überrascht. 1972 klinken sich Weinsberg und zwei Käsestände von Südmilch ein, wobei der damalige Geschäftsführer der Genossenschaftskellerei, August Muhler, anfangs Probleme hat, neue Winzer aufzutreiben.

2001 kommt die Stadtbahn, die Jugendszene wird von der Kaiserstraße verdrängt.Fotos: Archiv/Veigel
2001 kommt die Stadtbahn, die Jugendszene wird von der Kaiserstraße verdrängt.Fotos: Archiv/Veigel

1973 feiert man in einem durch den Marktplatz-Umbau aufgehübschten Ambiente. 1974 folgt die erste Dorferweiterung. Im Innenhof zeigt Grantschen Flagge, Drautz-Able mit Eberbach-Schäfer an der Lohtorstraße. 1975 sorgen Brackenheim, Dürrenzimmern und Bönnigheim für die Abrundung an der Rathausgasse. Gleichzeitig initiiert die Heilbronner Stimme den Blumenschmuck-Wettbewerb, über den die schönen Stände zu einem Markenzeichen des Festes avancieren.

1977 stoßen Göhring und Keicher hinzu, deren Stand an der Rathaustreppe inzwischen von G. A. Heinrich und der Hochschule Heilbronn besetzt ist. Rotationen gibt es auch im Imbissbereich, etwa 1984 wegen des Neubaus des Käthchenhofs sowie später durch Gastronomen wie Burkhardt, Straub und Umberto. Der Sekt-Gemeinschaftsstand wird 1988 aus der Taufe gehoben − und 2016 aufgegeben. Bei Senioren umstritten ist das 1999 besiegelte Aus des Marktplatz-Zeltes. Proch: "Oft war es schon mittags proppenvoll und Seppel Schell machte Musik." Es folgen vier "Beduinen-Rundzelte", die inzwischen wieder verschwunden sind. "Gewandert ist auch die Hauptbühne", berichtet Proch: vom Rathaus-Anbau vors heutigen Presutti an den aktuellen Standplatz gegenüber dem Rathaus.

Verfeinerung

Für Marktmeister Matthias Proch ist es das 36. Weindorf. Beim 47. kann er endlich mitfeiern.
Für Marktmeister Matthias Proch ist es das 36. Weindorf. Beim 47. kann er endlich mitfeiern.

Das Musikprogramm hat sich im Laufe der Jahre von volkstümlich über rockig zu poppig und swingend gewandelt. Kultureller Höhepunkt: der Theatermarkt der Region. Die Kritik an der Lautstärke ist leiser geworden − ebenso wie die Beschwerden von Anwohnern, die mitunter unter unschönen Randerscheinungen leiden. "Alles ist besser geworden", sagt Proch: nicht zuletzt dank Flaschen- und Müllsammeldienst von Union Böckingen, Tauchclub Heilbronn und FCU Heilbronn. Überhaupt lassen die Veranstalter bei der "Verfeinerung" des Festes nicht locker. Alte Deko-Teile werden nach und nach ausgemustert und durch moderne Elemente ersetzt: von Metall-Theken und -Lauben bis zu den neuen Sonnensegeln. Nur im Innenhof scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Mitunter wird das Fest auch zum Politikum. Als nach dem Abschied von Eberbach-Schäfer und Bönnigheim immer mehr Wengerter anklopfen, will Oberbürgermeister Helmut Himmelsbach das Weindorf zum Schaufenster für die ganze Weinregion machen. Von der Parole "Holt Hohenloher ins Dorf!" sind Heilbronner Winzer und Stadträte nicht begeistert. Gemeinschaftsstände bringen Ruhe in die Gassen: Wein-Villa, Heilbronner Wengertersstand, Hohenlohe, Weinsberger Tal. Die Warteliste für den Einstieg ins Dorf umfasst damals 60 Betriebe. So wundern sich viele, dass 2010 ein Elite-Weingut kurz vor Torschluss aus betriebswirtschaftlichen Gründen abwinkt: Fürst zu Hohenlohe-Oehringen. Ein Nachfolger ist schnell gefunden: 2011 kommt die WG Heuholz, die 2016 mit der Weinkellerei Hohenlohe fusioniert.

Wenn nun im Vorfeld der Bundesgartenschau und der Überbauung des Reim-Areals erneut von Erweiterung die Rede ist, darf man über die Nachfrage der Winzer gespannt sein. Die Zeiten, da man sich im Weindorf eine goldene Nase verdient hat, sind vorbei, sagen viele Winzer. Dennoch gilt das Fest mit 30 Betrieben und 320 Weinen als wichtigste Wein-Marketingplattform weit und breit.

 


 
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