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Nochmal im Gleichschritt

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Leingarten - Wie Konrad Fischer geht es vielen Menschen, die aus der ehemaligen DDR in den Westen gegangen sind. Egal, ob vor oder nach der Wende, mit oder ohne Ausreiseantrag. Es kommt der Tag, an dem sie ihre alte Heimat besuchen und sich an den Sozialismus erinnern. Konrad Fischer aus Leingarten zeigt Tochter Bettina seinen Geburtsort Chemnitz

Von Adrian Hoffmann



Oben rechts, letztes Fenster. Hier war es. Den Namen, der auf der Klingel steht, kennt Konrad Fischer nicht. Ist auch nicht wichtig. Er wollte nur das Haus sehen – und Tochter Bettina zeigen, wo ihre Eltern in der ehemaligen DDR gelebt haben; zum Schluss, kurz vor ihrer Ausreise.

Früher war die Straße nach Juri-Gagarin benannt, sowjetischer Kosmonaut, erster Mann im All. Heute ist es die Zschopauer-Straße.

Stasi-Akte

„Wahrscheinlich gibt es auch das Loch nicht mehr“, sagt Konrad Fischer. Hoffentlich. Das Loch ist eine eigene Geschichte. Fischer hatte es nie gesehen, nur davon gelesen. Es stand in seiner Stasi-Akte. Seine Frau und er gehörten zu den „Glücklichen“, die eine hatten. Mitarbeiter der Stasi besuchten damals die Nachbarn und bohrten von dort durch die Wand. Bis in ihr Schlafzimmer. Danach hörten sie das Paar ab. Kurze Zeit, nachdem Fischers einen Ausreiseantrag gestellt hatten.

Die 27-jährige Bettina weiß von der Stasi-Akte, nur kann sie sich schwer vorstellen, wie ihre Eltern damals gefühlt haben. Der erste Besuch in Chemnitz mit ihrem Vater, heute 62, macht alles plastischer.

Während Vater und Tochter vor dem Treppenhaus über vergangene Zeiten sprechen, kommt ein Mann aus dem Haus. „Vor 30 Jahren habe ich hier gewohnt“, sagt Fischer. Der Mann wird gesprächig, als er Familiennamen hört. Das Ehepaar, das neben Fischers wohnte, kenne er. „Die hatten auch eine Vergangenheit“, sagt er. Fischer: „Aber die waren nett und zurückhaltend.“ Ja, sagt der Mann. „Das waren die Schlimmsten. Die Netten und Zurückhaltenden.“

Ihm sei es kalt den Rücken herunter gelaufen, sagt Konrad Fischer unmittelbar nach der Begegnung. Die Wahrheit, die sich erahnen ließ, schmerzt. Noch immer, noch heute. Hatten seine Nachbarn selbst das Loch zum Schlafzimmer gebohrt?

Wie Konrad Fischer geht es vielen Menschen, die aus der ehemaligen DDR in den Westen gegangen sind. Egal, ob vor oder nach der Wende, mit oder ohne Ausreiseantrag. Es kommt der Tag, an dem sie ihre alte Heimat besuchen und sich an den Sozialismus erinnern – und manchmal erkennen, so wie Fischer, dass ihnen in all den Jahren der Bezug zur Vergangenheit verloren gegangen ist. Die Verwandten sind weggezogen, viele dorthin, wo es Arbeit gibt. Und Chemnitz, Chemnitz ist groß und leer. „Papa, es tut mir leid“, sagt Bettina. „Um Chemnitz schön zu machen, müsste man die halbe Stadt abreißen.“

Vorladung

Eine wichtige Station im Leben Konrad Fischers vor seiner Ausreise ist das Backstein-Gebäude in der früheren Friedrich-Engels-Straße, in dem er zuletzt Metallrahmen für Trabi-Scheinwerfer gestanzt hatte. Zersplitterte Glasstücke hängen wie Eiszapfen in den Fensterrahmen des baufälligen Gebäudes. Fischer kann sich genau erinnern, wie er 1980 seinen Kollegen verkündet hatte, den Ausreiseantrag bewilligt bekommen zu haben. Er war 33. „Ich habe nicht nachgedacht“, sagt er, „das war dumm.“ Ein SED-Parteisekretär rief bei der Bezirksleitung an, Fischer wurde vorgeladen. „Ich kann mir das richtig vorstellen“, sagt Bettina. „Manchmal überlegt er halt nicht.“ Er solle sich zurückhalten, hieß es, oder er könne sich die Ausreise abschminken. Fortan blieb er still, einige wussten trotzdem Bescheid. In der Kantine sprach ihn seine ehemalige Lehrerin an: Sie hätte das nie von ihm gedacht. „Mir blieb nur der Mund offen stehen“, sagt Fischer.

Wenige Wochen später warfen seine damalige Frau Elke und er den Schlüssel in den Briefkasten und stiegen in den Zug nach Westen. In einem Brief von damals schreibt er: „Es war so, als würde man aus einem Gefängnis fahren.“

Heute sitzt Fischer im Auto, als er am Wachtturm vorbeifährt, nicht mehr im Zug. Der Turm ragt in den grauen Himmel. Der Tag der Abreise ist präsent wie heute. „Nach der Grenze haben wir erstmal einen Rotkäppchen-Sekt geköpft“, sagt er. „Waren wir glücklich.“

Schwieriger Start

Ihre Ausreise hatte viele Gründe. „Es war nicht wegen der glitzernden Autos, schönem Waschmittel oder Schokolade“, sagt Fischer. „Es war das Regime.“ Sie konnten sich im Osten keine Zukunft vorstellen.

Der Start im Westen war schwer. „Gnadenlos herzlos“, wie Fischer sagt. Er hatte gehofft, leichter in das Leben zu finden. Dass sie vielleicht Anerkennung erfahren, weil sie den Mut hatten, auszureisen. Fischer hatte in der DDR eine journalistische Ausbildung gemacht und wollte im Westen Redakteur werden. „Ich dachte immer, wie schön es sein muss, für eine freie Zeitung zu schreiben“, sagt er. Allerdings wurde er nach vier Monaten Anstellung bei einer Stuttgarter Regionalzeitung nicht übernommen. Stattdessen wurde er Versicherungsvertreter.

Jetzt nutzte er die Zeit als Rentner, um an einem Roman zu schreiben. Er schildert kafkaesk die Zustände in einem System, in dem der Einzelne keine Rechte hat. Diktiertes Leben heißt der Arbeitstitel. Herr F. ist Protagonist des Buchs, und auch wenn alles fiktiv ist, die Geschichte verarbeitet Fischers Erlebnisse – fehlt nur noch ein Verleger.

Weit weg

Mit Chemnitz kann Fischer fast 30 Jahre nach der Ausreise nicht mehr viel anfangen. Ja, er hat Erinnerungen, auch schöne. Aber irgendwie, es ist alles so weit weg. „Meine Heimatgefühle halten sich in Grenzen“, sagt er. Es sei gut gewesen, nochmal dort gewesen zu sein. Mit Tochter Bettina durch die Stadt zu laufen. Die Straßen zu sehen, die seine Kindheit widerspiegeln. Er winkt kurz, als er zur Rückfahrt nach Heilbronn aufbricht – ein letztes Mal, hinein nach Chemnitz. „Ich denke, ich werde nicht wiederkommen“, sagt er.


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