Bespitzelungs-Vorwürfe gegen Lidl (26.03.08)
Neckarsulm - Erneut steht der Neckarsulmer Discounter Lidl im Kreuzfeuer der Kritik. Das Magazin Stern wirft dem Unternehmen massive Bespitzelung seiner Mitarbeiter vor. Ein Firmensprecher wies die Vorwürfe zurück: Die überwachten 210 Filialen hätten zu hohe Inventurdifferenzen gehabt

Erneut steht der Neckarsulmer Discounter Lidl im Kreuzfeuer der Kritik. Das Magazin Stern wirft dem Unternehmen massive Bespitzelung seiner Mitarbeiter vor. Ein Firmensprecher wies die Vorwürfe zurück: Die überwachten 210 Filialen hätten zu hohe Inventurdifferenzen gehabt.
Neckarsulm - Nach Angaben der Zeitschrift liegen ihr hunderte Seiten von Protokollen vor, die von Detekteien im Auftrag des Unternehmens erstellt worden seien und nicht nur die Verfolgung von Ladendiebstählen festgehalten hatten. So werden in den Berichten auch Vorfälle zitiert wie private Telefongespräche, Unterhaltungen von Mitarbeitern auf Polnisch, unaufgeräumte Sozialräume oder die Tatsache, dass eine Mitarbeiterin beide Arme tätowiert habe und eine andere einen Aufkleber einer rechtsextremen Gruppe auf ihrem Auto habe.
Die Überwachung habe demnach mit Kameras stattgefunden, die gegenüber den Filialleitern mit der Aufklärung von Ladendiebstählen begründet wurden. Tatsächlich sei aber vor allem das Verhalten der Beschäftigten protokolliert worden, schreibt das Magazin. Die vorliegenden Mitschriften bezögen sich auf Filialen in Niedersachsen, hinzu kämen einzelne Abhörberichte aus Rheinland-Pfalz, Berlin und Schleswig-Holstein.
Schwerer Stand für Gewerkschaft
Für die Heilbronner Verdi-Bezirksgeschäftsführerin Marianne Kugler-Wendt sind die Vorwürfe indes nur teilweise neu. „Dass es solche Protokolle und versteckte Beobachtungen der Mitarbeiter gibt, ist uns bekannt“, sagt sie. Das sei seinerzeit auch im „Schwarzbuch Lidl“ veröffentlicht worden. Neu sei lediglich, dass nun offenbar auch Kameras verwendet worden seien. „In Heilbronn ist allerdings noch niemand vorstellig geworden und hat uns davon berichtet“, sagt Kugler-Wendt weiter. Auch dem Landes-Fachbereichsleiter Werner Wild, stellvertretender Verdi-Landesvorsitzender, sind solche Vorwürfe noch nicht bekannt geworden. „Wir werden nun recherchieren – und wenn wenn wir belastbares Material haben, werden wir damit an die Öffentlichkeit gehen“, kündigte er an.
Innerhalb des Discounters hat die Gewerkschaft jedoch einen schweren Stand. Betriebsräte gibt es nach Wilds Angaben deutschlandweit nur in 13 der 16 Lager sowie in gerade mal sieben der etwa 2800 Filialen. Die beiden jüngsten Betriebsratswahlen gab es im vergangenen Jahr in Hamburg und in Stuttgart-Feuerbach. Dort hat jedoch vergangene Woche das Arbeitsgericht Stuttgart die Wahl für ungültig erklärt.
Datenschützer ermitteln
Unterdessen berichtete das baden-württembergische Innenministerium, dass es ein datenschutzrechtliches Überprüfungsverfahren eingeleitet habe. Das bestätigte die Ministeriumssprecherin Alice Loyson-Siemering. Solche Verfahren würden immer eingeleitet, wenn es Anhaltspunkte für Verstöße gegen den Datenschutz in Unternehmen vorliegen – entweder von Amts wegen oder auf Beschwerden von Betroffenen hin, sagte sie. Das fragliche Unternehmen sei verpflichtet, der Aufsichtsbehörde Auskünfte über die Vorwürfe zu erteilen. Werde ein Verstoß festgestellt, könne eine Rüge erteilt werden, je nach Tatbestand sei auch ein Bußgeld möglich. Derzeit würden bei der Stuttgarter Aufsichtsbehörde etwa 50 Verfahren pro Monat bearbeitet, allerdings nicht alle in solch einer mutmaßlichen Dimension.
Erstmals breit in die Kritik geraten war der Neckarsulmer Discountriese im Jahr 2004, als das „Schwarzbuch Lidl“ von Verdi veröffentlicht wurde. In ihm waren anonyme Berichte von Mitarbeitern gesammelt worden, die über schikanöse Praktiken in den Filialen berichteten. 2006 folgte noch ein „Schwarzbuch Lidl Europa“. Außerdem hat die Gewerkschaft seit Start ihrer Kampagne mittlerweile sechs Ausgaben der Zeitschrift „Schwarzmarkt“ herausgebracht. „Seitdem ist Lidl sehr vorsichtig geworden“, sagt die Heilbronner Verdi-Chefin Kugler-Wendt. „Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas – sofern es stimmt – noch vorkommen kann.“
„Künftig keine Detektive mehr in den Filialen“
Der Discounter wird künftig keine Detekteien mehr zur Überwachung seiner Filialen einsetzen. Das kündigte Geschäftsführer Jürgen Kisseberth, bei der Lidl Dienstleistung GmbH & Co. KG zuständig für Mitarbeiter und Soziales, gegenüber unserer Zeitung an. „Wir gehen so ein Risiko nicht mehr ein“, sagte er.
Der Vorwurf, Lidl habe durch den Einsatz von Kameras seine Mitarbeiter ausspionieren wollen, greife so nicht, betonte Kisseberth. „Wir haben keine Daten ausgewertet oder irgendwie gespeichert.“ Es sei dem Unternehmen auch egal, ob eine Mitarbeiterin tätowiert sei oder bestimmte Aufkleber auf dem Auto habe. „Das ist für die Vermeidung von hohen Inventurdifferenzen völlig irrelevant.“
Lidl habe im vergangenen Jahr in 210 Filialen, über ganz Deutschland verstreut, zwei Detekteien eingesetzt. Im Jahr zuvor seien die Ermittler in etwa 150 Filialen aktiv gewesen, die überdurchschnittlich hohe Inventurdifferenzen aufwiesen. Meistens habe das Büro eine Woche, manchmal auch zwei Wochen überwacht. „Das ist in der Branche so üblich“, sagte Kisseberth. „Die Detekteien haben uns eine Referenzliste mit vielen prominenten Handelsunternehmen vorgelegt.“
Lidl müsse angesichts der üblicherweise geringen Gewinnspannen im Einzelhandel darauf achten, dass die Verluste durch Diebstähle, die erst bei Inventuren auffallen, gering bleiben, begründete der Geschäftsführer die Einsätze. „Es gab aber nicht den Auftrag an die Detekteien, uns private Details der Mitarbeiter mitzuteilen. Wir sind nun an einem Punkt angekommen, dass wir uns nur bei den Betroffenen entschuldigen können.“
Lidl betreibt in Deutschland etwa 2800 Filialen und ist damit der zweitgrößte Discounter hinter Aldi. Das Unternehmen ist Teil der Neckarsulmer Schwarz-Gruppe, zu der auch die Verbrauchermarkt-Kette Kaufland gehört. Der Gruppenumsatz stieg im Geschäftsjahr 2006 auf etwa 43,9 Milliarden Euro an, davon 24 Milliarden im Inland.
Überwachung kein EinzelfallNach Einschätzung einer Sprecherin des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Peter Schaar, sind verdeckte Videoüberwachungen von Mitarbeitern kein Einzelfall. Dies sei aber nur als letzte Möglichkeit und über einen kurzen Zeitraum gerechtfertigt, wenn sich etwa der Arbeitgeber gegen Diebstahl schützen wolle. Das Protokollieren eines Toilettenbesuchs und Ähnliches stelle jedoch einen schweren Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz dar.
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