Der riesige, aber nutzlose Schein-Bahnhof von Lauffen
Um britische Bomber im Zweiten Weltkrieg von Stuttgart abzulenken, bauten die Nazis bei Lauffen in ganz groben Zügen den Stuttgarter Bahnhof nach: Der Hausener Hobbyhistoriker Günter Keller hat dazu eine Dokumentation herausgebracht.

Um britische Bomber im Zweiten Weltkrieg von Stuttgart abzulenken, bauten die Nazis bei Lauffen in ganz groben Zügen den Stuttgarter Bahnhof nach: Holzattrappen, Gleise, Fundamente. Straßenzüge wurden nachempfunden, Lichtblitze sollten den Fahrbetrieb von Straßenbahnen imitieren. Das große Täuschungsmanöver der deutschen Luftwaffe, das zwischen 1940 und 1943 unter dem Geheimkommando "Brasilien" lief, wurde bislang auf eine Fläche im Lauffener Gewann Weidenbusch an der Markungsgrenze zu Brackenheim-Hausen begrenzt.
"Die Scheinanlage hatte jedoch weit größere Ausmaße", heißt das Fazit von sechs Jahren Recherche, die der Hausener Hobbyhistoriker Günter Keller angestrengt hat. Seine Ergebnisse fasst er in einem Buch zusammen, das jetzt im Handel erschienen ist.
Die Neckarschlinge war es, die Görings Militärstrategen 1939 auf Lauffen aufmerksam gemacht hat. Der Verlauf des Flusses hier hat starke Ähnlichkeit mit der Neckarkurve in Bad Cannstatt. Die Flakabteilung Ludwigsburg und das Baukommando der Luftwaffe setzten den streng geheimen Plan um. Die Flächen bei Lauffen und Brackenheim wurden zum Sperrgebiet erklärt. "Keiner weiß exakt, was sich da abgespielt hat", sagt Keller. Das habe seine Forschung extrem erschwert.
Nicht nur Lauffen musste herhalten
1958 bedankte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett bei den Lauffenern, dass sie für Stuttgart herhalten mussten. "Und genau das ist nicht ganz richtig. Auch andere haben die Köpfe hingehalten", korrigiert Keller zudem die Inhalte einer Ausstellung, die 2011 im Lauffener Klostermuseum gezeigt wurden. Die Scheinanlage sei ausgedehnter gewesen, "großteils auf Hausener Markung".
Keller unterstreicht seine wissenschaftliche Vorgehensweise, und er betont die historische Belastbarkeit seines Buches. Er verweist auf 100 Zeitzeugen, auf Quellenmaterial lokaler Archive, der englischen Luftwaffe und der Wehrmacht, die wie ein Puzzle zu einem für Keller stimmigen Bild aneinandergefügt wurden und im Buch angegeben sind.
"Damals und heute war und ist es weitgehend unbekannt, dass sich das wahre Ausmaß der Anlage mit einer Scheinverteidigung durch Flaks und Scheinwerferstellungen zwischen Neckarwestheim und Eibensbach, von Leingarten-Großgartach bis Kirchheim erstreckt hat", unterstreicht der Hausener. "Man muss klar zwischen der Scheinverteidigung und der Attrappe selbst unterscheiden."
"Eine totale Pleite"

Teile dieser seien auch auf Nordheimer Markung und bis zum Horkheimer Wehr aufgebaut gewesen. "Die Attrappe wurde vom deutschen Militär schöngeredet, sie war eine totale Pleite", stellt der Autor fest. Keller: "Alle Bombardierereignisse im Betrachtungszeitraum und -gebiet zwischen Ludwigsburg und Heilbronn wurden dem Erfolg der Attrappe zugeordnet." Die Rede sei von 37 Angriffen zwischen 1940 und 1943. "Und auch das ist ein Fehler. So viele sind es den ganzen Krieg über gewesen. Auf die Scheinanlage selbst fielen jedoch fast keine Bomben."
Irrflüge britischer Bomber
Auch die Lauffener Schreckensnacht vom 12. auf den 13. Oktober 1941 deutet Keller neu. Hier sei keineswegs eine britische Formation Richtung Stuttgart unterwegs gewesen und durch die Scheinanlage angelockt worden. Denn in einem Flugtagebuch der britischen Air Force, den "Bomber Command War Diaries 1939 bis 1945", findet er keinerlei Einträge mit diesem Ziel. Allerdings habe sich ein Verband von 152 Bombern Richtung Nürnberg auf den Weg gemacht, um dort Industrieanlagen zu zerstören. Etwa das MAN-Werk, das für militärischen Nachschub sorgte. Nur 15 Maschinen seien dort angekommen, der Rest habe sich verirrt, sagt Keller. Etwa ins 15 Kilometer entfernte Schwabach, das ein Inferno erlebte, sowie in die 135 Kilometer südwestlich vom Angriffsziel gelegene Gemeinde Lauingen.

Und auch ins 180 Kilometer westlich gelegene Lauffener Dörfle drifteten 20 Maschinen ab, warfen dort ihre Ladung ab. Vor 1942 steckte die Radartechnik in den Kinderschuhen. "Die Navigation beruhte auf Kompass, Sollgeschwindigkeit, Höhenmesser", begründet Keller den Irrflug. "Haben die gewaltig Rückenwind bekommen, sind sie übers Ziel hinausgeschossen." Eine Maschine dieses Verbands sei in der Nacht sogar in der Schweiz, im Kanton Aargau, abgestürzt.
Der Schwindel "Scheinanlage" wurde von den Briten am 24. April 1942 enttarnt und unter dem Namen "Decoy (Köder) Stuttgart" aktenkundig. Mitte 1943, so Keller, wurde die Anlage abgebaut.
Autor und Vorträge
"Die Scheinanlage -Stuttgarter Bahnhof" stammt aus der Feder des Hausener Hobbyhistorikers Günter Keller. Der 65-Jährige ist im Ruhestand. In seiner beruflichen Zeit war er Mathelehrer an einem Gymnasium, sattelte um, war Diplom-Kaufmann und Softwareentwickler. Er bewirtschaftet Weinberge, singt im Chor und in einem kleinen Ensemble. Zudem arbeitet er beim historisch aktiven Zabergäuverein mit Sitz in Güglingen mit und gehört der Historischen Gesellschaft Bönnigheim an.
Sein Buch stellt der Chef des Kulturkreises Hausen bei einem Vortragsabend des Lauffener Heimatvereins am kommenden Freitag, 7. April, 19 Uhr, im Klostermuseum vor. Zudem am Montag, 10. April,19 Uhr, bei einer Lesung im Brackenheimer Rathaus sowie am Montag, 8. Mai, um 20 Uhr in Güglingen. Das Werk mit 160 Seiten ist in einer Auflage von 700 Exemplaren erschienen. Es kostet 19,80 Euro und ist im Buchhandel sowie beim Autor selbst erhältlich.