Der lange Kampf ums Werk
Der Marsch auf Heilbronn vom 18. April 1975 gehört zu den Ereignissen, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Region eingebrannt haben. Zurecht, denn vor 40 Jahren wäre Audi NSU beinahe geschlossen worden.

Der Marsch auf Heilbronn vom 18. April 1975 gehört zu den Ereignissen, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Region eingebrannt haben. Zurecht, denn vor 40 Jahren wäre Audi NSU beinahe geschlossen worden. Das Aus für die Fabrik war bereits beschlossene Sache - eigentlich ging es nur noch um den Zeitpunkt. Kurzarbeit und immer neue Gerüchte hatten in den Monaten zuvor für eine tiefe Verunsicherung in der Belegschaft gesorgt.
"Wir wollen Arbeit" riefen die Teilnehmer des Marsches. Die Existenzangst der Mitarbeiter war greifbar und real. Dass in Neckarsulm heute eine der profitabelsten Fabriken des Konzerns steht, ist dem Widerstand der Belegschaft und der ganzen Region zu verdanken, der in die spontane Demonstration vom 18. April mündete.

VW stand damals mit dem Rücken zur Wand, Überkapazitäten drückten. Die Ölkrise von 1973 hatte die Wirtschaftswunderjahre jäh beendet. Und Neckarsulm stand als "vereinigte Hüttenwerke" im Verruf. Zum Werk gehörten auch Fabriken in Heilbronn und in Neuenstein.
Der letzte NSU, der Ro 80 mit seinem Wankelmotor, mag der Stolz der Neckarsulmer gewesen sein, aber die Nachfrage war gering und dadurch die Auslastung der Fertigung. 3500 Mark Verlust machte das Unternehmen 1975 mit jedem Ro 80. Der Audi 100 wurde zwar seit 1971 auch in Neckarsulm produziert, aber das Fahrzeug war eng mit dem Audi-Schwesterwerk Ingolstadt verbunden.
Hohe Dynamik

Die Dynamik ist groß: Toni Schmücker, ein ausgewiesener Sanierer, hat gerade den Vorstandsvorsitz bei VW übernommen - in der Nachfolge des alten Audi-NSU-Manns Rudolf Leiding. Schmücker soll die Kohlen aus dem Feuer holen, und die Zeit drängt.

Auch außerhalb der Region stößt der Kampf auf ein Medienecho. "Solang mer no schnauft, is mer net tot", zitiert der "Spiegel" den Neckarsulmer Betriebsratsvorsitzenden Karl Walz. Auch die "Stuttgarter Zeitung" nimmt den Kampf auf die Titelseite.
Gerade eine Woche im Amt macht Toni Schmücker die Presseberichte im Vorstand zum Thema und lässt parallel zum Schließungsplan ein Konzept erarbeiten, das die Stilllegung von Neckarsulm aussparen soll - zunächst wohl vor allem als Beruhigungspille. Bei einem Termin mit Klotz und dem damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger in Stuttgart signalisiert Schmücker nämlich auch Anfang März noch, dass Neckarsulm "in allerhöchster Gefahr" sei.

Vorstand für Schließung
Gerettet ist das Werk mit dieser Feststellung aber noch lange nicht. "Aus unternehmenspolitischer Sicht ist eine Kapazitätsanpassung durch Schließung des Werksbereichs Neckarsulm und Verlagerung der Fahrzeugmontage von Salzgitter nach Wolfsburg bei Einschichtbetrieb Brüssel und Emden erforderlich", heißt es lapidar im Protokoll der VW-Vorstandssitzung vom 25. März.
Diesen "Plan K" empfiehlt der Vorstand entsprechend dem Aufsichtsrat, der am 14. April die Entscheidung treffen muss: "Zur Sicherung der Existenz des VW-Konzerns kann eine weniger einschneidende Lösung nicht ins Auge gefasst werden." 30 000 Stellen sollten so abgebaut werden.

Um die Zahl der anzeigepflichtigen Entlassungen zu verringern - Opel und Ford stellten gleichzeitig in Deutschland ein, wie der Göttinger Wirtschaftshistoriker Dr. Manfred Grieger bemerkt - wird die "Lösung S" im Vorfeld der entscheidenden Aufsichtsratssitzung ergänzt und als "S1-Plan" vom Aufsichtsrat dann schließlich mit der Mehrheit der Kapitalvertreter beschlossen.

Obwohl der Vorstand ursprünglich das Gegenteil vorgeschlagen hatte, sind auch Schmücker und seine Kollegen zufrieden mit der Entscheidung, Neckarsulm "zunächst" im Einschichtbetrieb weiterzubetreiben. Was dazu geführt hat? War es nur eine Finte? Zeichnete sich eine Verbesserung der Marktsituation ab? Das lässt sich aus den Protokollen nicht herauslesen.