"Das ist das Einfallstor für alles": Autor Alexander Estis im Stimme-Interview
Der ehemalige Stadtschreiber von Heilbronn, der Autor, Übersetzer und Journalist Alexander Estis über die russische Militärdoktrin, die gefährliche Strategie der Geheimdienste, westlichen Relativismus, die Antisemitismus-Debatte und die merkwürdige Solidarität mit der Hamas.

Mit Prognosen hält sich Alexander Estis zurück. Geboren in Moskau in eine jüdische Familie, ist der Autor mit russisch-ukrainischem Hintergrund in Deutschland aufgewachsen - und gefragter Kommentator zum Komplex Russland und zur Antisemitismusdebatte. Im Gespräch erzählt der ehemalige Heilbronner Stadtschreiber, wie sich die Grenzen des öffentlichen Diskurses nach dem 7. Oktober verschoben haben, warum die Ukraine alle Hilfe braucht und wir unsere Demokratie verteidigen müssen.

Wenn Fragen die Fundamente des Regimes erschüttern könnten, dann zerfiele wohl nach Nawalnys Tod der Kreml zu Staub, haben Sie in der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben. Da Fragen Wladimir Putin nicht beeindrucken, wer oder was könnte den russischen Machthaber stoppen?
Alexander Estis: Ich möchte die Politologin Jekaterina Schulmann zitieren, die seit 2022 in Deutschland lebt: "Ein bewaffnetes Regime kann nicht von Unbewaffneten gestürzt werden." Was mit Regimekritikern in Russland geschieht, die mit Argumenten kämpfen, sehen wir. Niederlagen Russlands an der ukrainischen Front können das System Putin jedoch empfindlich treffen
Herr Estis, Sie haben intime Einblicke in den russischen Alltag, ein Teil Ihrer Verwandtschaft lebt in Russland. Wie naiv ist die Frage des Westens, wie sich dieses repressive Regime nur halten kann?
Estis: Man muss verstehen, in Russland funktioniert inzwischen viel über Denunziation. Denunziation aus Karrieresucht, aus Angst, auch aus Überzeugung und aus Ressentiment gegenüber den Intellektuellen, die geblieben sind und sich kaum öffentlich zu äußern wagen. Ich habe ein Problem mit sogenannten Russlandexperten im Westen, die die Brutalität von Putins Rhetorik, die er von Anfang an zeigte, nicht verstanden haben und verstehen. Putin ist ein Mann des KGB. Und worin russische Geheimdienste perfekt sind, sind Verwirrung, Verfälschung, Einschüchterung und Stiftung von Chaos.
Und das wurde lange übersehen?
Estis: Das hat man im Westen, teils haben es aber auch Intellektuelle in Russland unterschätzt. Insbesondere für die russische Propaganda gilt das, die auch ich für zu plump hielt. Heute sehen wir, dass Menschen die absurdesten Dinge glauben.
Das ist in den USA nicht anders...
Estis: Donald Trump ist ein Geschenk für Putin. Man könnte meinen, er sei ein Geschöpf des russischen Geheimdienstes.
Wir haben uns, als Sie 2022 Ihre Stelle als Stadtschreiber von Heilbronn antraten, unterhalten. Sie erwähnten einen Neffen, der, wie andere, Gefahr lief, auf offener Straße willkürlich das Handy konfisziert zu bekommen...
Estis: ...der Neffe ist inzwischen nach Israel emigriert.
Hätten Sie damals gedacht, dass sich der Ukraine-Krieg so ausbreitet?
Estis: Ich hätte es nicht ausgeschlossen. Weil der Kreml schwer zu stoppen ist. Die Verluste in der eigenen Bevölkerung sind der Führung egal. Das entspricht der russischen Militärstrategie seit jeher, Menschen als Kanonenfutter zu betrachten.
Dem kommt zupass, was Sie Apolitismus, Trägheit und Privatismus der russischen Gesellschaft nennen.
Estis: Ein sehr großer Teil der russischen Bevölkerung sagt sich, die da oben machen sowieso, was sie wollen, ich halte mich heraus. Eine Haltung auch schon in der Sowjetzeit, bei und neben der es Kontinuitäten bis in die Zarenzeit gibt.
...die da wären?
Estis: Sehnsucht nach starker Führung, Imperialismus, großrussischer Chauvinismus und die Macht der orthodoxen Kirche. Wir hier haben indes, das dürfen wir nicht unterschätzen, mit einem wachsenden westlichen Relativismus zu kämpfen.
Erklären Sie uns das, Herr Estis.
Estis: Wir sind vielfach nicht mehr bereit, für universelle Werte einzutreten, für Aufklärung, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, für den Glauben an grundlegende Rechte, an die Würde und den Wert des Menschen. Dass diese Werte infrage gestellt erscheinen, empfinde ich als Tragödie. Das ist das Einfallstor für alles: Faschismus, Diktatur, die Unterstützung autoritärer Regime. Wenn man diese Werte aufgibt, kann man gleich sterben gehen.
Zwei Jahre Ukraine-Krieg, das sind zwei Jahre Russlands Feldzug gegen eine zivilisierte Welt...
Estis: ...dagegen müssen wir den in Vergessenheit geratenen Begriff der wehrhaften Demokratie hochhalten und das Toleranzparadoxon bedenken - also keine Toleranz gegenüber Intoleranz -, das gilt auch für andere Konfliktherde auf der Welt. In Bezug auf die Ukraine müssen wir alle erforderliche Unterstützung zur Verfügung stellen.
Auch Waffen?
Estis: Auch Waffen. Alles andere ist unterlassene Hilfeleistung. Was der Ukraine im Moment nützt, um sich zu verteidigen, nützt auch uns. Wir dürfen uns keiner Illusionen hingeben darüber, was passiert, wenn Putin ungehindert weiterzieht.
Noch 2022 erklärten Sie, dass Sie den Antisemitismus im Russland der 90er Jahre unmittelbarer erlebt haben als in Deutschland. Wo er Ihnen versteckt begegnete. Was ist heute anders?
Estis: Es ist nicht zufällig, dass gerade Russland seine Netzwerke in Deutschland nutzt, das sah man während Covid, als sogenannte alternative Fakten gegen die verhassten "Systemmedien" ausgespielt wurden und Covidmythen fast nahtlos übergingen in antiukrainische und antisemitische Propaganda. Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, hat sich die Grenze dessen, was im öffentlichen Diskurs in Deutschland sagbar ist, nochmals wesentlich verschoben.
Die humanitäre Lage in Gaza spitzt sich zu. Die propalästinensische Positionierung einzelner Künstler auf der Berlinale und die nur späte Distanzierung davon durch die Berlinale-Leitung und Kulturstaatsministerin Claudia Roth, ist das Antisemitismus?
Estis: Solidarität mit zivilen Opfern in Palästina einzufordern und die Einhaltung des Völkerrechts, ist legitim. Aber: Durch bestimmte Erzählmuster wird eine antisemitische Grundstimmung erzeugt. Das muss im Einzelfall kein bewusster Antisemitismus sein, oft ist es jedoch eine Einseitigkeit in der Empathie.
Und der Vorwurf der Apartheid?
Estis: Wer Israel Apartheid unterstellt, ohne den Auslöser 7. Oktober zu erwähnen und die Vorgeschichte des arabischen Antisemitismus, verfolgt eine klare Strategie und hat kein Interesse an einer Konfliktlösung in Nahost. Das ist eine merkwürdig verzerrte Solidarität. Ich halte auch nichts von Vergleichen mit dem Holocaust und Auschwitz.
Können Sie die Forderung nachvollziehen, Israel als Demokratie solle anders handeln als ein Terrorregime.
Estis: Durchaus, zumal was die Verhältnismäßigkeit und die Ziele der Kampfhandlungen angeht. Doch man darf nicht vergessen, dass die Hamas Israel weiterhin bombardiert und Geiseln hält. Sie müssen die gesamte Bedrohungslage betrachten, die sich weit über die Region über den Iran bis nach Moskau erstreckt. Wenn man sagt, Israel solle den Krieg einseitig einstellen, kommt dies der Forderung gleich, auf Selbstverteidigung zu verzichten.
Zur Person: Alexander Estis wurde 1986 in Moskau in die jüdische Familie der sowjetischen Künstler Nikolai Estis und Lydia Schulgina geboren. 1996 zog er mit den Eltern nach Hamburg, Studium an der Universität Hamburg. Der Autor von Kurzprosa, Übersetzer und Kolumnist unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", "FAZ", "NZZ" und "Die Zeit" lebt seit 2016 überwiegend in Aarau in der Schweiz. 2022/23 war Estis Stadtschreiber in Heilbronn. Mehrfach ausgezeichnet, erhielt er 2023 den Kurt-Tucholsky-Preis.

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