Grünen-Politiker Ströbele: Kein Automatismus bei der Lieferung schwerer Waffen
Der Grünen-Mitbegründer Hans-Christian Ströbele mahnt seine Partei, eine Debatte über ihre Haltung zu bewaffneten Einsätzen zu führen. Im Ukraine-Krieg sieht er das Risiko einer umfassenden militärischen Konfrontation.
Herr Ströbele, die Welt ist aus den Fugen?
Hans-Christian Ströbele: Zum Glück nicht die ganze Welt. Die Ukraine ist überfallen worden, Russland führt einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Aber das wirkt sich aus, auf ganz Osteuropa, auf die mitteleuropäischen Staaten, insbesondere auf Deutschland, und es betrifft auch unsere Beziehungen zu Staaten wie China.
Sie haben die Wendezeit 1989/90 in vorderster politischer Reihe erlebt. Hätten Sie sich einmal eine Situation, mit der wir heute konfrontiert sind, vorstellen können?
Ströbele: Nein. Ich bin damals sogar davon ausgegangen, dass die Bundeswehr und die Nato überflüssig geworden sind, weil sich die andere Seite, der Warschauer Pakt, aufgelöst hatte. Ich war voller Hoffnung, dass wir eine neue, dauerhafte Friedensordnung in Europa bekommen werden.
Und hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Ihre Grünen einmal eine Position einnehmen, die die Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet erlauben würde?
Ströbele: Auch hier: ein klares Nein. Ich glaube, es war allgemein die Auffassung, dass die Nato jetzt nicht vorrückt und dass auch keine osteuropäischen Staaten aufgenommen werden durch das Bündnis. Soweit ich mich erinnere war dies auch die Position der Kohl-Regierung. Die Zeichen standen ganz klar auf Entspannung. Mit der Einwilligung zur Lieferung schwerer Waffen entfernen sich die Grünen heute von den Grundsätzen der Friedensbewegung.
Was wenden Sie gegen die Lieferung von Waffen ein, wenn sie dem verbrieften UN-Recht zur Selbstverteidigung entsprechen?
Ströbele: Bei dem Vorgehen, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, handelt es sich um erprobte, international seit Jahrzehnten anerkannte und auch gute Grundsätze der Friedenspolitik. Mehr Waffenlieferungen führen dazu, dass Kämpfe härter werden. Die Zerstörung wird größer, es sterben mehr Menschen. Wenn also die Lieferung von Waffen geboten scheint, muss dies immer wieder aufs Neue gut hinterfragt und begründet werden. Es darf keinen Automatismus bei der Lieferung schwerer Waffen geben. Sie könnten auch für Angriffe geeignet sein, so dass sich die Frage stellt, ob sie wirklich allein der Selbstverteidigung dienen. Auch frage ich: Warum sind anfängliche, begründete Zweifel plötzlich über Bord geworfen worden?
Was meinen Sie damit?
Ströbele: Wenn diese Waffenlieferungen doch zunächst abgelehnt wurden, weil das Risiko der Eskalation zu einem Weltkrieg mit Einsatz von Atomwaffen diskutiert und gesehen worden ist, muss eine Wende begründet werden. Die Bundesregierung muss erklären, warum das Risiko nun in Kauf genommen wird. Oder ob es eben nicht mehr besteht und wieso. Mir fehlen hier die Reflexion und auch die offene Information. Mit Sorge schaue ich darauf, dass eine richtige Kriegsbereitschaftsstimmung geschürt wird.
Sind in diesem Fall Waffen nicht ein Beitrag zur Schaffung eines Friedens, weil sie dem Angegriffenen in eine bessere Position gegen den Aggressor bringen?
Ströbele: Waffen sind nie ein Friedensbeitrag, sondern von Waffen geht immer eine Gefahr für Zerstörung, Verletzung und Tod aus. Wenn sich ein Volk oder eine ganze Region bewaffnet, dann geschieht dies, um im Notfall Krieg führen zu können. Diese Situation haben wir heute: Die Ukraine wehrt sich gegen einen Überfall und ist dabei bislang offensichtlich relativ erfolgreich. Sie ist auf Waffenhilfe angewiesen und bekommt sie auch. Ich habe mich für die Lieferung von Waffen defensiver Natur ausgesprochen, aber jegliche Kriegseuphorie ist fehl am Platz. Ich mahne zu Augenmaß. Die Lieferung von schweren Waffensystemen, die auch offensiv eingesetzt werden können, birgt das Risiko einer enormen Eskalation. Ich denke, Putin ist auch zu weiteren Eskalationsstufen bereit und seine Militärmacht dazu fähig.
Eskalation bedeutet aus Ihrer Sicht?
Ströbele: Wir waren viele Jahrzehnte darum bemüht, einen Krieg zwischen Ost und West zu verhindern. Das Risiko einer umfassenden militärischen Konfrontation ist leider 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder größer geworden. Und das hält mich davon ab zu sagen, man muss jetzt auch schwere Waffen, die für einen Angriff geeignet sind und meist genutzt werden, liefern. Putin hat zwar nicht die Generalmobilmachung angeordnet, was bedeutet hätte, dass er wahrscheinlich Hunderttausende zusätzliche Soldaten in den Krieg schicken würde. Aber der Endpunkt dieses Konfliktes ist eben noch nicht erreicht. Irgendwann könnte Russland die massive Aufrüstung der Ukraine auch mit schweren Waffen durch die Nato als Kriegsbeteiligung bewerten. Eine Eskalation bis hin zu einem Weltkrieg mit Einsatz von Atomwaffen ist möglich, wenn die Lage nicht bald befriedet wird. Es ist notwendig, dass wir nicht alle Grenzen austesten.
Wie könnte der Krieg enden?
Ströbele: Auch ich habe kein Patentrezept. Putin hat sich vor Beginn des Krieges hinter Lügen versteckt und tut es jetzt auch noch. Ich kann bei ihm keine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft erkennen. Natürlich muss man hoffen, dass die Ukraine mit ihren Mitteln weiterhin standhält, Putin nicht mehr vorankommt, und sich Wege zu echten Verhandlungen öffnen. Die Ukraine darf auch nicht gegen Russland unterliegen. Es sollte möglichst bald eine Situation eintreten, dass beide Seiten zu echten Verhandlungen bereit sind und die Waffen schweigen.
Wünschen Sie sich etwas von Ihren Grünen?
Ströbele: Ja, natürlich. Dass Sie vor allen Dingen das machen, was Sie ja schon nach vorherigen Kriegsbeteiligungen leider versäumt haben, also zum Beispiel nach 20 Jahren Afghanistankrieg: Spätestens nach dem Ende des Krieges gegen die Ukraine müssen die Grünen eine Diskussion darüber führen, wie es zu der radikalen Veränderung der grünen Positionen bei diesem Thema gekommen ist. Ich höre und lese mit großem Erstaunen und zum Teil auch Unverständnis, dass ausgerechnet Grüne heute an der Spitze der Pro-Waffen-Bewegung stehen.
Annalena Baerbock nannte Europa einmal „das größte Friedensprojekt, das wir je hatten“. Ist es noch dieses große Friedensprojekt?
Ströbele: Ja, es sollte es sein. Die EU als enges Bündnis europäischer Staaten bekommt Europa gut. Eine friedliche EU, in der auch Widersprüche ausgetragen werden können, weil natürlich Bulgarien andere Probleme hat als Spanien, muss die Zukunft sein.
Zur Person
Hans-Christian Ströbele wurde am 7. Juni 1939 in Halle geboren. Er war von 2002 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ströbele war das dienstälteste Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Bundestages zur Kontrolle der Nachrichtendienste. Er holte für den Bundestagswahlkreis Berlin-Friedrichshain - Kreuzberg - Prenzlauer Berg Ost bei den Bundestagswahlen 2002, 2005, 2009 und 2013 als jeweils einziger Bundestagsabgeordneter seiner Partei das Direktmandat. Auch in den 80er und 90er Jahren war Ströbele schon Mitglied des Bundestages. Bei der Bundestagswahl 2017 trat er nicht mehr an. Ströbele ist Enkel von Franz Ströbele (von 1947 bis 1952 Präsident des Bauernverbandes Württemberg-Baden) und Sohn des aus Leonberg stammenden Chemikers Rudolf Ströbele.