Wolfgang Kubicki: Große Chance auf Rückkehr ins Vor-Corona-Leben
Der Vize-Parteichef der FDP, Wolfgang Kubicki, hat gemeinsam mit zahlreichen Parteifreunden im Bundestag einen Gruppenantrag gegen die allgemeine Impfpflicht gestellt.
Eine Impfpflicht sei verfassungsrechtlich schwer zu rechtfertigen und kaum durchsetzbar, schließlich gehe es nicht um eine Radarkontrolle. Menschen, die verunsichert seien, dürften nicht ausgegrenzt werden.
Herr Kubicki, was sagen Sie Menschen in Ihrem Wahlkreis, die auf Sie zukommen und fragen: Wo ist unsere Perspektive? Wo die Exitstrategie?
Wolfgang Kubicki: Naturgemäß kann man die Entwicklung pandemischer Lagen nicht exakt voraussagen. Aber wir erleben gerade mit der Omikron-Welle, dass die Chance auf eine Rückkehr ins Vor-Corona-Leben größer ist denn je. Ich glaube, dass wir die ersten Ausläufer der Endemie sehen und dass das unbeschwerte Leben im Laufe des Jahres wieder zurückkehrt. Und ich glaube auch, es wird deutlich früher geschehen als es Karl Lauterbach prognostiziert.
Die Impfquote in Deutschland liegt immer noch deutlich unter der in vielen europäischen Nachbarländern. Was ist hier falsch gelaufen? Was muss besser werden, was können wir von anderen Ländern lernen?
Kubicki: Tatsächlich liegen wir im europäischen Mittelfeld. Das kann uns trotzdem nicht zufriedenstellen. Ich glaube, es war von Beginn an die völlig verkorkste Kommunikationsstrategie der damaligen Bundesregierung unter Angela Merkel, die diese eher bescheidene Impfquote verursacht hat.
Was meinen Sie genau?
Kubicki: Dadurch, dass den Menschen immer eingebläut wurde, Impfen sei weniger Selbstschutz, vielmehr ein Akt der Solidarität, hat man viel Schaden verursacht. Und dadurch, dass suggeriert wurde, Menschen mit Zweifeln und Fragen seien eher spalterisch oder als Corona-Leugner unterwegs, wurde die Impfung erst zu einem politischen Statement. Ich habe mich außerdem die ganze Zeit gefragt: Wo ist die positive Kampagne, die bei den Menschen auch gedanklich haften bleibt? Niemand kam damals in den 1980ern an den Plakaten und an der Fernsehwerbung „Gib Aids keine Chance“ vorbei. Das wirkt bis heute nach. Was hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jetzt in der Corona-Pandemie gemacht? Mir fällt da leider nichts ein. Wir brauchen außerdem viel mehr niedrigschwellige Angebote und eine zielgruppengerechte Ansprache. Da ist leider viel zu wenig geschehen.
Sollte man akzeptieren, dass sich in einer freiheitlichen Gesellschaft Menschen nicht impfen lassen möchten?
Kubicki: Ja, das sehe ich so. Das ist übrigens exakt die Linie, die die alte Bundesregierung bis zum Sommer vergangenen Jahres immer vertreten hat. Ich habe noch Kanzleramtsminister Helge Braun vor Augen, der richtigerweise erklärte, aus verfassungsrechtlichen Gründen müsse der Eingriff des Staates enden, wenn jede und jeder die Möglichkeit hatte, sich impfen zu lassen. Dann nämlich sei man selbst für seinen Gesundheitsschutz verantwortlich. Die verfassungsrechtlichen Gründe sind heute keine anderen. Dass diese Position heute von einigen eher in die moralische Unwertecke gestellt und als egoistisch-rücksichtslos gebrandmarkt wird, finde ich besorgniserregend.
Auch, weil der Ruf nach einer allgemeinen Impfpflicht Menschen überfordern mag? Es ist erst ein paar Wochen her, als noch heftig darum gerungen wurde, ob es überhaupt eine Impfpflicht für das Gesundheits- und Pflegepersonal geben sollte.
Kubicki: Ich sehe es täglich in meinem elektronischen Postfach, wie sehr diese Frage die Menschen umtreibt. Es gibt wirklich viele unterschiedliche Gründe, warum man sich nicht impfen lässt. Es gibt sicher einige Spinner, die meinen, Bill Gates würde ihnen einen Chip einpflanzen. Die allermeisten aber – das ist jedenfalls mein Eindruck – haben Sorgen und große Fragen. Es sind nicht wenige, die ein psychologisches Problem mit diesem Eingriff haben. Unsere Aufgabe ist es deshalb, den Menschen diese Verunsicherung zu nehmen und sie nicht in die Verschwörungsecke zu schieben und sie gesellschaftlich auszugrenzen. Wer glaubt, durch noch mehr Druck die Impfquote erhöhen zu können, hat sich nicht mit diesen Menschen auseinandergesetzt.
Die Hürden, vor dem Bundesverfassungsgericht zu bestehen, sind bei einer allgemeinen Impfpflicht besonders hoch. Sie müsste einen legitimen Zweck erfüllen. Entscheidend ist dann auch, ob es nicht „mildere Mittel“ gäbe, um die Ziele zu erreichen. Was wären mildere Mittel?
Kubicki: Ich gehe noch einen kurzen Schritt zurück, wenn Sie gestatten. Der Unterschied zu anderen Impfpflichten, die es bereits in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat, ist folgender: Die Impfungen gegen Pocken und Masern boten die Chance, das Virus auszurotten. Das ist bei SARS-CoV-2 nicht möglich. Wir erhalten durch die Impfung keine sterile Immunität. Deshalb ist eine Impfpflicht verfassungsrechtlich schwer zu rechtfertigen. Mildere Mittel wären die angesprochenen niedrigschwelligen Angebote, zielgruppengerechte Ansprache oder – wie es Bremen vorgemacht hat – mehrsprachige Teams, die durch die sogenannten „Problemviertel“ gegangen sind. Bremen hat es deutlich besser gemacht als Bayern oder Sachsen. Dort ist noch viel Luft nach oben.
Wäre eine Impfpflicht überhaupt zu kontrollieren und durchzusetzen?
Kubicki: Ohne das häufig genannte „Impfregister“ wird das kaum möglich sein. Insgesamt sehe ich derzeit noch viel zu viele offene Fragen, wie genau eine solche Impfpflicht umgesetzt werden soll. Auch das zum Teil vorgebrachte Argument, die Überprüfung des Impfstatus könne vergleichbar mit einer Verkehrskontrolle sein, überzeugt mich nicht. Denn anders als bei dem Blitzer um die Ecke, der die Regeleinhaltung prüft, spielt bei der Impfpflicht ja die zeitliche Komponente eine große Rolle. Das Ziel ist es ja, so schnell wie möglich die Impfquote zu erhöhen. Da bringen dann zufällige Überprüfungen fast gar nichts, um einen flächendeckenden Effekt zu haben.
Ist eine gestaffelte Impfpflicht, beispielsweise für Menschen über 50 Jahre, eine Option?
Kubicki: Für mich nicht. Ich kann das Argument zwar nachvollziehen. Denn der grundrechtliche Eingriff wird dadurch auf diejenigen konzentriert, die am ehesten von schweren Erkrankungen betroffen sind. Es wäre ein milderes Mittel, verglichen mit der allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren. Aber – wie gesagt – das ist nicht meine Linie, weil viele der Argumente gegen eine allgemeine Impfpflicht auch gegen eine Impfpflicht ab 50 sprechen.
Der Virologe Christian Drosten sagte kürzlich, alle Menschen müssten sich früher oder später mit Sars-Cov-2 infizieren: „Wir können nicht auf Dauer alle paar Monate über eine Boosterimpfung den Immunschutz der ganzen Bevölkerung erhalten.“ Irgendwann müsse man das Virus laufen lassen. Richtig aus Ihrer Sicht?
Kubicki: Wer wäre ich, dass ich Christian Drosten in seinem Fachgebiet widerspräche? Selbstverständlich brauchen wir jetzt den geregelten Weg nach draußen, in die alte Freiheit. So, wie die derzeitigen Daten es nahelegen, ist Omikron die bisher beste Chance, diesen Weg jetzt vorzubereiten, beziehungsweise einzuschlagen. Das gilt zuallererst für die Schulen. Nach dem aktuellen Wochenbericht des RKI liegt die Omikron-Gefahr für Kinder und Jugendliche, auf der Intensivstation zu landen oder zu sterben, bei null. Wenn sich diese Zahlen inhaltlich stabilisieren, müssen die Schulen komplett geöffnet werden. Da führt auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Weg vorbei.
Im März 2020 kam der Bundestag das erste Mal eigens wegen der Krise zusammen. Sie sprachen damals auch von der symbolischen Strahlkraft, es zeige sich, dass das „Herz der Demokratie auch in Zeiten der Krise schlägt”. Inwieweit hat sich Corona aber heute zu einer Belastung für die demokratische Gesellschaft entwickelt?
Kubicki: Das ist eine große Frage. Unsere demokratische Gesellschaft ist belastet, zweifellos. Ich denke aber nicht, dass Corona dies verursacht hat, sondern die politischen Maßnahmen. Schweden ist ja ganz anders mit der Pandemie umgegangen, nie ein Lockdown, kaum Maskenpflicht und so weiter – mit der Folge, dass zum Beispiel Bayern mittlerweile mehr Todesfälle pro 100.000 Einwohner zu beklagen hat als die Schweden. Wohlgemerkt, unter Markus Söder aus dem „Team Vorsicht“. Wir haben seit Beginn der Pandemie leider zu häufig erlebt, dass Begründungen vorgeschoben wurden, um grundrechtsbeschränkende Maßnahmen einzusetzen.
Nennen Sie Beispiele bitte.
Kubicki: Wir sehen, dass mehrere Ministerpräsidenten mit falschen Zahlen hantierten, um Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen und um deren Freiheiten einzuschränken. Und wir konnten erleben, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel lange Zeit Maßnahmen beschlossen hat, bei denen sie nicht einmal im Nachhinein überprüft hat, ob diese eigentlich das gebracht haben, was man sich von ihnen versprach. Es scheint im Nachhinein so, dass allein der politische Aktionismus, irgendwas zu beschließen, im Kanzleramt als die richtige Anti-Corona-Maßnahme angesehen wurde. Der Glaube hat sich bei vielen verfestigt: Je härter die Maßnahmen, umso wirkungsvoller sind sie. Das ist natürlich falsch und aus demokratischer Sicht fatal.
Sie meinen, wenn wir noch mehr Maßnahmen beschließen und keine Exitstrategie bieten, könnte die Politik an Vertrauen verlieren? Haben Sie gar die Sorge, dass der Zusammenhalt nachlässt, weil von Teilen der Gesellschaft Institutionen generell infrage gestellt werden?
Kubicki: Die Politik hat bereits enorm an Vertrauen verspielt, da mache ich mir keine Illusionen. Es wird eine Herkulesaufgabe sein, dieses Vertrauen wieder zurückzuholen. Ich setze da viel Hoffnung in Karl Lauterbach, dem ich deutlich mehr im Amt des Gesundheitsministers zutraue als Jens Spahn. Allerdings hat auch mich gewundert, dass das RKI plötzlich über Nacht erklärt hat, bereits Infizierte verlieren jetzt bereits nach drei Monaten ihren Genesenenstatus. Dass diesen Menschen plötzlich die Teilhabe am öffentlichen Leben verwehrt wird, weil man sich ja nicht sofort doppelt impfen lassen kann, halte ich für hochproblematisch.
Was ist aus Ihrer Sicht bei dieser Entscheidung besonders problematisch?
Kubicki: Dieser schlagartige Kursschwenk verstärkt bei vielen den Eindruck, dass man sich auf die öffentlichen Ankündigungen des RKI nicht verlassen sollte. Wir kommen letztlich nicht umhin, eine geordnete parlamentarische Aufarbeitung der Corona-Politik zu betreiben. Es ist für den gesellschaftlichen Heilungsprozess notwendig, hier für schonungslose Transparenz der politischen Entscheidungsprozesse zu sorgen. Nur wenn sich „die“ Politik demütig dieser schmerzhaften Aufarbeitung stellt, können wir der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken.
Tatsächlich besaß Politik selten eine solche Alltagsrelevanz, die unmittelbar und überall spürbar ist: in der Schule, im Supermarkt, im Sport, im Schauspiel, im Restaurant. Corona-Maßnahmen begegnen uns in einer Art Dauerschleife. Die Politik als nahezu allmächtiger Begleiter?
Kubicki: Das ist das große Problem. Es gibt einen großen Gewöhnungseffekt. Ich kämpfe dafür, dass wir dort so schnell wie möglich herauskommen. Wir haben uns an die Eingriffe des Staates so gewöhnt, dass viele die Befürchtung haben, zieht sich der Staat jetzt zurück, wird das Leben gefährlich. Ja, das Leben ist grundsätzlich gefährlich, uns kann immer etwas zustoßen, selbst wenn der Staat ein 100-prozentiges Schutzniveau verspricht. Dass die Exekutive sich aber nicht mehr die Mühe macht, Grundrechtseingriffe sorgfältig zu begründen, war so nicht von unseren Verfassungsmüttern und -vätern gedacht. Der Sinn der Maßnahmen sollte eigentlich sein, sich selbst überflüssig zu machen. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Wir müssen wieder akzeptieren, dass es ein allgemeines Lebensrisiko gibt, das uns der Staat nicht abnehmen kann. Die Eigenverantwortung muss wieder zentraler Bestandteil unseres Lebens werden – und nicht die Vorgabe von Verhaltensregeln durch den Staat.
Welche Maßnahme hat Sie selbst bisher am meisten genervt? Wie schränkt Sie Corona in Ihrem Alltag ein?
Kubicki: Jede Maßnahme nervt mich, die nicht ordentlich begründet wird. Selbstverständlich gibt es vernünftige Maßnahmen. Das Maskentragen im öffentlichen Nahverkehr ist völlig richtig und schützt vor einer Infektion. Aber bei einigen Maßnahmen stößt man manchmal hart an die Grenze der Logik.
Inwiefern?
Kubicki: Ich gebe mal ein Beispiel: Die „Bundesnotbremse“ sah damals vor, dass sich ein Ehepaar bei einer 100er-Inzidenz in einem Park nicht mit einem anderen Paar unterhalten durfte. Infektiologisch gab es keinen Grund, trotzdem hielt man das für sinnvoll. Ein anderes Beispiel: In Frankfurt laufen Polizisten mit 1,5-m-Zollstöcken durch die Gegend, um Abstände zwischen Personen zu messen – im Freien. Wenn wir dieses Überprüfungsniveau aufrechterhalten, macht sich der Staat auf Dauer zum Gespött. Ein letztes Beispiel: Wir reden bei der Impfpflicht jetzt darüber, dass wir uns vor der kommenden Herbstwelle schützen müssen. Wir meinen also ernsthaft, dass wir eine noch unbekannte Variante mit einem Impfstoff stoppen wollen, den wir noch nicht haben. Ich finde diese Argumentation ziemlich absurd. Sie würde jedenfalls krachend in Karlsruhe scheitern.
Herr Kubicki, die Pandemie hat uns seit fast zwei Jahren fest im Griff. Hätten Sie sich im Anfang 2020 vorstellen können, dass Corona einmal unser Alltagsleben in einer solchen Weise bestimmen kann?
Kubicki: Nein, ich denke das hat sich niemand vorstellen können. Was mich jedoch in den vergangenen zwei Jahren am meisten gewundert hat und mich noch immer beunruhigt, ist, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung innerhalb so kurzer Zeit von unseren freiheitlichen Grundlagen so schnell und so gründlich gelöst hat. Es erscheint vielen als normal, dass die Organe des Staates in vielen Lebensbereichen jetzt ihre Finger im Spiel haben. Besonders irritiert hat mich aber, dass einige Journalisten in großen Leitmedien oftmals darin aufgegangen sind, möglichst harte grundrechtsbeschränkende Maßnahmen zu fordern. Kritik an dem Kurs der Bundesregierung wurde dort über lange Zeit vermieden. Wir erleben, dass das Fehlen des kritischen Nachfragens mittlerweile zu erheblichem Unmut in der Gesellschaft geführt hat. Das demokratisch wichtige Korrektiv fehlte über lange Zeit einfach.
Ihre Prognose: Wird die allgemeine Impfpflicht kommen?
Kubicki: Fragen Sie mich in drei Wochen nochmal.
Zur Person: Wolfgang Kubicki wurde am 3. März 1952 in Braunschweig geboren. Der Politiker, Volkswirt und Rechtsanwalt war erstmals von 1990 bis 1992 Mitglied des Deutschen Bundestages und anschließend bis 2017 Abgeordneter im Landtag Schleswig-Holstein. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und seit der Bundestagswahl 2017 erneut Mitglied des Bundestages. Am 24. Oktober 2017 wurde er Bundestagsvizepräsident. Den Gruppenantrag gegen eine allgemeine Corona-Impfpflicht, den Kubicki mit anderen Fraktionsmitgliedern formuliert hat, haben inzwischen 36 Abgeordnete unterzeichnet, darunter sind zwei aus der Union.