Wie Europa von der Digitalisierung in der Ukraine lernen kann
Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind es gewöhnt, Behördengänge in der Heimat mobil-digital erledigen zu können. In Berlin haben sich nun Akteure der Digitalisierung über Erfahrungen und Lösungen ausgetauscht.

Die Metropole Berlin ist binnen weniger Wochen förmlich um eine ganze Großstadt gewachsen. Von den bislang 230.000 in Berlin eingetroffenen Flüchtlingen aus der Ukraine sind nach Schätzungen bislang rund 100.000 Menschen in der Stadt geblieben. Für die Neuankömmlinge stellen sich Existenzfragen: Wo finde ich Unterkunft? Wie finde ich Arbeit, wo einen Schulplatz für mein Kind, wer spendet Kleidung? Welchen Anspruch auf Sozialleistungen habe ich und wie funktioniert das? Auf der Suche nach Orientierung und Antworten werden digitale Angebote erkennbar immer wichtiger.
Voneinander lernen: Dieses Ziel hat sich der Verein „Digitize Berlin – Connect Europe“ (DiBCoE) auf die Fahne geschrieben. Er hat nun Akteure der Digitalisierung zusammengebracht, die von ihren Erfahrungen zum Thema Ukraine berichteten. Aus Berlin selbst, den digital als besonders innovativ geltenden Städten Wien und Tallinn (Estland) – und aus der Ukraine waren zwei Flüchtlinge mit dabei. Auch Ralf Kleindiek kam hinzu. Er verantwortet seit ein paar Monaten als Chief Digital Officer (CDO) in der Senatsverwaltung für Inneres die Digitale Transformation Berlins.
In Berlin informieren heute eine Webseite und ein Callcenter in ukrainisch, deutsch und englisch die Flüchtlinge. Kleindiek ist erster Digital-Chef der Stadt und soll die Verwaltung in die digitale Zukunft führen. Er verweist auf den Basisdienst für „digitale Antragsverfahren“. Binnen einer Woche habe Berlin eine komplett digitale Registrierung der Menschen aus der Ukraine anbieten können, damit es eben nicht zu langen Schlangen vor den Ämtern komme. Unterkunftsvermittlung, soziale Leistungen und nicht zuletzt Vermittlung einer Arbeit seien auf dieser Grundlage sehr schnell möglich geworden. Kleindiek: „Das hat uns - und vor allem den Menschen aus der Ukraine - vieles erleichtert.“
Vom „Ankommen“ und „Bleiben“
Zunächst ging es aber vor allem darum, das „Ankommen“ zu organisieren – schnell wurde im ehemaligen Flughafen Tegel ein Ankunftszentrum eingerichtet. Der Staatssekretär für Digitales und Verwaltungsmodernisierung betont, für das „Hiersein“ komme es darauf an, rasch die Versorgung zu gewährleisten, die Vermittlung einer Unterkunft oder Arbeit. Kinder wurden zügig in Willkommensklassen unterrichtet, falls möglich, auch in Kombination mit einem digitalen Unterricht zusammen mit der Schulklasse in der Ukraine. Das hilft nicht nur beim Ankommen, sondern die Heimat bleibt präsent. Aus Sicht des CDO wird das „Bleiben“ die Herausforderungen der Zukunft bestimmen. Kleindiek: „Wir wissen aus Erfahrung: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Geflüchtete bleiben und ihre Angehörigen kommen gegebenenfalls nach.“
Von Roenne: „Das ist gelebtes Europa“
Damit die Verwaltung nun fit für die digitale Zukunft wird, braucht es auch das Engagement aus der Gesellschaft. Der Austausch zum Thema Ukraine sei „gelebtes Europa“, sagt Hubertus von Roenne, Vorsitzender von „Digitize Berlin – Connect Europe“ . Es gehe darum, Akteure aus dem Digitalen zu vernetzen, den Austausch über Projekte zu suchen, die gut laufen (Best Practice). Von Roenne, der Transformationsprozesse aus seiner CDO-Tätigkeit für Unternehmen kennt, beschreibt den Verein als „Think Act Tank“ - reden und handeln stehen im Fokus: „Wir wissen aus vielen Gesprächen, dass die Herausforderungen bei der Digitalisierung der Verwaltung eigentlich überall nahezu die gleichen sind - Vergaberecht, Orientierung am Nutzer, Datenschutz, klassisches Arbeiten in Silos und Übergang von Piloten/Test in den Betrieb. Und wir wissen auch, dass es viele gute, bereits implementierte Lösungen gibt, und sehr kompetente und engagierte Verwaltungsmitarbeiterinnen und Verwaltungsmitarbeiter.“ Aber es sei fast unmöglich zu wissen, wer wo eine Lösung und Erfahrungen hat, vor allem außerhalb von Deutschland. Von Roenne: „Wie stark und krisenbereit wäre Europa, wenn wir mehr grenzübergreifend zusammen arbeiten bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors. Das wollen wir als gemeinnütziger Think Act Tank adressieren.“
Die Ukraine sei „ein recht gut digitalisiertes Land in Europa“, urteilt von Roenne, „Ukrainerinnen und Ukrainer können fast alle Behördengänge online über das Mobiltelefon erledigen.“ Und viele seien zudem begeisterte Europäer. Jetzt auch die digitalen Fähigkeiten der Ukrainer in Europa zu nutzen, würde Europa einen richtig positiven Schub geben, hofft er.
Viele Millionen Ukrainer nutzen die App „Diaa“
Tatsächlich ist in der Ukraine die Digitalisierung in den vergangenen Jahren forciert worden: Mancher der Geflüchteten hat nicht einmal Ausweispapiere dabei – aber viele haben auf dem Smartphone persönliche Dokumente digital zur Identifizierung und Weitergabe gespeichert. Viele Millionen Ukrainer nutzen „Diaa“, eine mobile App und Webseite und 2020 gestartet. Die Regierung in Kiew plant, einmal alle Arten von alle staatlichen Dienstleistungen für Bürger und Unternehmen an einem einzigen Ort zu vereinen.
Service-Portal für Berlin vorgeschlagen
Für Berlin schlägt von Roenne ein Service-Portal für Ukrainer vor, in denen persönliche Daten einmal eingegeben werden, um verschiedene Prozesse wie Anmeldung, Kinderbetreuung, Führerscheinumschreibung etc. auszulösen. Diese würde sowohl den Geflüchteten wie auch den Verwaltungsmitarbeitern viel Zeit und Frust ersparen. „Andere europäische Länder und auch deutsche Kommunen bieten dies bereits an“, sagt von Roenne.
Verbesserungsbedarf definieren

Dass es noch einiges zu verbessern gilt, weiß Anastasiia Umanets (32) zu berichten. Die Ukrainerin stammt aus Odessa, sie lebt seit rund zehn Jahren in Deutschland, arbeitet heute als Sachbearbeiterin im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Hier haben sie und das ganze Team jeden Tag mit den Neuankömmlingen zu tun. Umanets spricht ihre Sprache, das ist nützlich, wenn es um die ersten Schritte der Integration geht. Umanets, die Kulturwissenschaften, Geschichte und Ethnologie studiert hat, befasst sich seit langem mit Digitalisierung von Verwaltungsprozessen und bildet sich entsprechend weiter. Die Veranstaltung des Vereins im Berliner Einstein-Center hat sie als wichtig empfunden: „Es ist immer gewinnbringend, sich über digitale Erfolgsgeschichten auszutauschen und Verbesserungsbedarf zu definieren.“
Anastasiia Umanets: Bedarf an flexibleren Datenbanken
Deutschland und Europa erlebten nicht die erste Flüchtlingswelle, sagt Umanets, umso bedauerlicher sei es, „dass man es bis jetzt nicht so richtig geschafft hat, deutlich angenehmere Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in den Bezirksämtern zu schaffen“. Sie fügt hinzu: „Es besteht weiterer Bedarf an flexibleren Datenbanken, nach bequemeren Möglichkeiten, Daten schnell einzutragen, damit man rasch Dienstleistungen auf den Weg bringen kann.“ Die Teams in den Ämtern würden immer noch viel zu sehr von Papierbergen behindert.
„Man könnte man sich extrem viel Aufwand ersparen“
Umanets betont: „Die Mitarbeiter können nur das schaffen, was die Rahmenbedingungen hergeben.“ Und sie fügt hinzu: „Wenn Vorgänge vereinfacht und beschleunigt werden, entlasten wir die Mitarbeiter – und zugleich schaffen wir ein kundenfreundlicheres Verwaltungsimage.“ Sie nennt das Beispiel eines Flüchtlings, der von einem Berliner Stadtbezirk in einen anderen umziehen muss. Es könne doch nicht sein, sagt sie, dass sich dieser Mensch dort wieder persönlich vorstellen müsse, um seine Überweisung zu bekommen, weil ein Bezirk dem anderen aus Datenschutzgründen Einsicht verweigere. „Hätte man das alles digitalisiert, könnte man sich extrem viel Aufwand ersparen“.
Es gebe nur selten den „idealen Fall“, der alle Unterlagen mitbringe. Manche Dokumente werden nachgereicht. Manche Familienmitglieder reisen später ein und müssen mit ihren Verwandten im selben Fall eingepflegt werden. Erschwert wurde die Arbeit am Anfang des Krieges auch dadurch, dass ukrainische Muttersprachler erst paar Wochen später eingesetzt wurden. Klar, ganz viele Ukrainer sprechen Englisch, aber in den Verwaltungen gibt es viele Spezialthemen, bei denen der Austausch ohne entsprechende Sprachkenntnisse schwerfällt. Umanets mahnt mehr Investitionen in die IT der Bezirksämter an: „Wir müssen weg vom Ausdrucken und vom Einscannen“. So „unwichtig“ die Bezirksebene manchmal erscheinen möge, „schultert genau sie in erster Linie sämtliche Krisen, sei es Pandemie oder Krieg“.
Dankbarkeit und Respekt
Die 32-Jährige betont auch: „Die Berliner Verwaltung wird leider oft schlecht geredet, zu Unrecht. Denn wir sich einmal mit den Menschen befasst, die hier tätig sind, sieht, wie viel sie leisten, und wie bescheiden dabei bleiben, begegnet ihnen auch mit mehr Respekt.“ Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien sehr dankbar für die Unterstützung, trotz mancher Wartezeiten vor allem in den ersten Wochen der Fluchtwelle.
„Digitalisierung in Europa kräftigen Schub geben“
Dass die digitale Transformation ein vermutlich nie abgeschlossener Prozess ist, darüber sind sich alle einig. Staatssekretär Kleindiek will die Akteure in der Digitalisierung noch enger verbinden: „Das ist sehr wichtig - vor allem in einer Stadt wie Berlin: 120.000 Menschen arbeiten in Berlin mit und für Digitalisierung, das ist ein tolles Potential für die ganze Stadt und auch für unsere Verwaltung.“ Von Roenne sagt zum Sinn der Vernetzung: „Wenn wir motivierte, innovative Menschen zusammenbringen, dann macht 1+1 eben drei. Ein Netzwerk mit Menschen und Lösungen zu haben, gerade auch aus anderen europäischen Städten, wird ungeheure Kräfte freisetzen und der Digitalisierung der Verwaltung in Europa einen kräftigen Schub geben.“
Wie man Menschen digital unterstützen kann, die vor Krieg und Gewalt geflüchtet sind, zeigt auch ein Projekt, das der Deutsche Bühnenverein und das Internationale Theaterinstitut – Zentrum Deutschland (ITI) umgesetzt haben: Das Online-Angebot „StayOnStage“ wendet sich an diejenigen, die am Zufluchtsort Arbeits- oder Auftrittsmöglichkeiten suchen. Auf der kürzlich gestarteten Online-Plattform finden Künstler Angebote, die von Theatern oder Orchestern eingestellt werden. Die Plattform erfasst zudem Stellenangebote aus den technischen und administrativen Bereichen, mit Hinweisen auf mögliche Vermittlung von Unterkünften. Kunst und Digitales – auch eine starke Verbindung.
Der Think Act Tank „Digitize Berlin - Connect Europe” wurde im April 2022 gegründet. Der gemeinnützige Verein hat das Ziel, den öffentlichen Sektor mithilfe europäischer Best Practices noch schneller und handlungsfähiger zu gestalten. Er will Menschen aus allen Bereichen an einen Tisch bringen. Die 24 Gründungsmitglieder kommen u.a. aus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Digitalisierung stand lange auf der politischen Agenda Berlins nicht weit oben. Dass man bei der Terminvergabe in Ämter zuweilen viel Geduld aufbringen muss, hat auch mit der schleppenden Transformation der Vergangenheit zu tun.
Die Aufgabenliste ist lang: Nun soll also Tempo gemacht werden: Vorantreiben der Smart-City-Strategie, Beschleunigung der Digitalisierungsprozesse der Verwaltung, die Implementierung des Wandels als Querschnittsthema für alle Ressorts (der Berliner Föderalismus mit Land und Bezirken spielt hier eine Rolle). Auch die Risikoscheu soll abgebaut werden. Anastaciia Umanets sagt dazu: „Es stellt sich wirklich die Frage: Hält man sich an seinen Ängsten fest? Oder geht man ein gewisses Risiko ein, um am Ende große Vorteile aus der Modernisierung zu ziehen? Es kann doch keinen Zweifel geben: Die Digitalisierung der Verwaltung und Automatisierung von Vorgängen ermöglicht mehr Einheitlichkeit bei der Abarbeitung der gleichen Fälle. Solange es keine Vereinheitlichung gebe, seien zu viele Arbeitsabläufe „einem menschlichen Faktor überlassen“.