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Selenskyj: "In Europa gibt es wieder eine Mauer"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält vor dem Deutschen Bundestag eine bewegende Rede, in der er auch kritische Worte findet. Von Deutschland erwartet er eine Führungsrolle. 

Hans-Jürgen Deglow
von Hans-Jürgen Deglow
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Lesezeit 4 Min
Bundestag
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht auf einer Videoleinwand im Bundestag  Foto: Michael Kappeler (dpa)

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt bat um etwas Geduld. Die Leitung nach Kiew zu Präsident Wolodymyr Selenskyj stehe noch nicht, es habe dort einen "Anschlag" in unmittelbarer Nähe gegeben. Kurze Unruhe, dann ist es soweit. Um 9.11 Uhr erteilte Göring-Eckardt dem zugeschalteten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj das Wort. "Liebes Volk Deutschlands, ich spreche Sie nach drei Wochen des Krieges an" sagte er. Er spricht von dem, was sein Land aktuell erfährt: "Tausende Ukrainer sind gefallen".  Die Sanktionen Deutschlands seien nicht genug.

Es sind eindringliche, emotionale Worte, die die Abgeordneten aus Kiew zu hören bekamen, auch Kritik. Drei Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine forderte Selenskyj mehr Hilfe von Deutschland ein. "In Europa gibt es wieder eine Mauer", sagte der ukrainische Präsident in seiner Videobotschaft. Diese "steht zwischen uns“. Selenskyj weiter: "Sie befinden sich irgendwie wieder hinter der Mauer, nicht Berliner Mauer, aber mitten in Europa, wo es Freiheit gibt. Und diese Mauer ist stärker, mit jeder Bombe, die auf unseren Boden in der Ukraine fällt."

"Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer."

Er richtete sich direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient." Bei der Metapher der Mauer bezog sich Selenskyj auf den früheren US-Präsidenten Ronald Reagan. Dieser hatte 1987 in West-Berlin an die Sowjetunion und Michail Gorbatschow appelliert, die Berliner Mauer niederzureißen.

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Selenskyj betonte, in seinem Land seien nun Zivilisten und Soldaten wahllos Ziel russischer Angriffe: "Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles, was in der Ukraine da ist. Das sind Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen, alles. Mit Raketen, mit Luftbomben, mit Artillerie. In drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet, mitten in Europa, bei uns im Jahre 2022." Der Präsident erinnerte auch an Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren. Wieder versuche man in Europa, ein "ganzes Volk zu vernichten".

"Und auch jetzt zögern Sie noch."

Selenskyj dankte allen Deutschen, die sich für die Ukraine einsetzten, beklagte aber, dass einige Unternehmen Moral über Gewinn setzten. Zugleich kritisierte er, dass er lange vergeblich um Hilfe gebeten und sein Ansinnen eines Nato-Beitritts keinen Erfolg gehabt habe. "Und auch jetzt zögern Sie noch beim Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union." 

Göring-Eckardt: Wir sind in Gedanken bei euch

Die Bundestagsabgeordneten waren vor der Rede aufgestanden und begrüßten den auf einer Videoleinwand zugeschalteten Selenskyj mit Applaus. Die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt drückte Entsetzen über den von Russland begonnenen Krieg aus, sicherte Kiew die Solidarität Deutschlands zu. "Wir sehen euch, wir sind in Gedanken bei euch und bei denen, die um euch trauern." Der eklatante Angriff auf das Völkerrecht treffe schutzlose Menschen.

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Streit über Wunsch nach Aussprache im Parlament

Nach Selenskyjs Rede stritten Abgeordnete, ob es eine Aussprache darüber geben sollte. Die Union fordert Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf, Stellung zur Rede Selenskyjs zu nehmen. Die Koalition von SPD, Grünen und FDP lehnte einen entsprechenden Antrag von CDU nach kontroverser Debatte ab. Zustimmung kam von den anderen Oppositionsparteien Linke und AfD. Jan Korte von der Linkspartei sagte an die Adresse des Kanzlers gerichtet: "Achten Sie darauf, dass Sie nach 100 Tagen Amtszeit nicht schon so arrogant wirken wie andere nach 16 Jahren Regierungszeit."

Direkter Übergang zur Tagesordnung

Göring-Eckardt war nach der Rede Selenskyjs ohne Pause zur Tagesordnung und zur Impfpflicht-Debatte übergangen und hatte zunächst zwei Abgeordneten zum Geburtstag gratuliert - begleitet von Zwischenrufen aus der Unionsfraktion wie "unwürdig" oder "peinlich".

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Merz: Richtiger Zeitpunkt, um Zwischenbilanz zu ziehen

Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) verwies auf den vergangenen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs und den anstehenden Sondergipfel der Nato. "Nach dieser Rede des ukrainischen Präsidenten wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt, Zwischenbilanz zu ziehen", begründete er den Antrag auf Debatte über den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine.  Katja Mast (SPD) mahnte, die Worte Selenskyjs erst einmal wirken zu lassen. Sie verwies zudem auf die Regierungserklärung von Olaf Scholz am 27. Februar.

Ähnlich äußerte sich Britta Haßelmann von den Grünen. Christian Dürr, Fraktionschef der FDP, erklärte, auch das britische Unterhaus und der US-Kongress hätten nach Videobotschaften Selenskyjs auf eine Aussprache verzichtet. Dennoch blieb der Vorwurf aus der Opposition im Raum: Warum hatte man am Donnerstagmorgen dann nicht wenigstens eine kurze Pause eingelegt, um die Rede wirken zu lassen, statt sofort mit der Tagesordnung weiterzumachen? 

Der Heilbronner FDP-Politiker Michael Link, Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung, nannte die Rede Selenskyjs einen "bewegenden Appell eines Präsidenten, der erkennbar die ganze Last eines Landes trägt, das einem Angriffskrieg ausgesetzt ist. Für uns ist dies Verpflichtung, alles zu tun was wir können, um der Ukraine bei Ihrer Selbstverteidigung zu helfen, inklusive der Lieferung weiterer Verteidigungswaffen."

"Selenskyj hat uns einen Spiegel vorgehalten"

Auch den Heidenheimer Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) hat die Ansprache Selenskyjs bewegt: "Er hat uns einen Spiegel vorgehalten hinsichtlich Wirtschaftsinteressen und wie wir die Annäherung der Ukraine an die Nato verhindert haben. Und er hat uns den Spiegel vorgehalten, wie wenig wir der Würde des Deutschen Bundestages und des Freiheitsversprechens der deutschen Verfassung gerecht werden, wenn wir nach einer so herzergreifenden Rede einfach  in eine Geschäftsordnung- und Impfpflichtdebatte übergehen. Das wirkt auch für Außenstehende respekt- und würdelos."

Ottilie Klein: Dass parlamentarische Debatte ausblieb, ist eine Schande

Die Berliner CDU-Politikerin Ottilie Klein, Tochter von Russland-Deutschen und in Villingen-Schwenningen geboren, sagte unserer Redaktion: "Verzögerte Reaktionen und ausbleibende Sanktionen verlängern diesen Angriffskrieg und kosten jeden Tag weitere Menschenleben. Den Vorwürfen Präsident Selenskyjs müssen wir uns stellen. Selenskyj sprach von einer Mauer in Europa. Gerade diese Worte müssen jeden Deutschen berühren. Dass eine Antwort von Bundeskanzler Olaf Scholz nach diesem eindringlichen Appell ausblieb, dass die Ampel-Fraktionen eine parlamentarische Debatte darüber verweigerten, halte ich für eine Schande."

Selenskyj hatte seine Rede mit Dank an alle Unterstützerinnen und Unterstützern beendet und eindringlich gebeten: "Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen“.

 

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