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Rufe nach finanziellen Hilfen für Pflegebedürftige 

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Inflation infolge des Krieges, steigende Personal- und Energiekosten: Für immer mehr Menschen wird die Pflege im Heim unbezahlbar. Vor einem „Kosten-Tsunami“ warnt das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA).

von Hans-Jürgen Deglow
Niederstetten: Eine 100 Jahre alte Bewohnerin eines Seniorenhaus im Vorbachtal faltet ihre Hände. Selbst zu zahlende Anteile für Pflegebedürftige im Heim sind in den letzten Monaten weiter gestiegen.
Niederstetten: Eine 100 Jahre alte Bewohnerin eines Seniorenhaus im Vorbachtal faltet ihre Hände. Selbst zu zahlende Anteile für Pflegebedürftige im Heim sind in den letzten Monaten weiter gestiegen.  Foto: Marijan Murat (dpa)

Weil viele Pflegebedürftige die höheren finanziellen Belastungen kaum noch stemmen können, schlägt KDA-Vorstandschef Helmut Kneppe Überbrückungshilfen für Menschen vor, die in Einrichtungen und zuhause gepflegt werden. Dies mit Blick auch auf eine drohende Überlastung von pflegenden Angehörigen. Weitere Verbände haben sich inzwischen ebenfalls mahnend geäußert, unterstützen die Haltung der Stiftung.

Dass das Pflegesystem in Deutschland grundsätzlich reformbedürftig ist, zeigt sich besonders jetzt, wo es massiv unter Druck steht. Die Inflation wirken sich auf alle Ausgabenposten im Bereich Pflege aus. Manche Klinik und Pflegeeinrichtung sieht sich sogar in der Existenz bedroht. Zu den steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen kommen noch höhere Personalkosten hinzu. Seit dem 1. September 2022 gilt die Tariftreueregelung, nach der Pflegeanbieter ihre Beschäftigten in der stationären und ambulanten Pflege nach Tarif bezahlen müssen, wenn sie Leistungen von Pflegekassen erhalten wollen. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe benennt einen weiteren Webfehler in der Pflegefinanzierung selbst. Die Pflegeversicherung deckt nur einen geringen Sockelbetrag der Kosten ab, ähnlich einer Teilkasko-Versicherung. Der weitaus größere Teil ist im Prinzip eine dehnbare freie Spitze. Hier wirken sich sofort höhere Energie-, Betriebs-, Lebensmittel- und Personalkosten aus, die von den Einrichtungen zu großen Teilen weitergereicht werden. Pflegebedürftigen droht hier die Armutsfalle.

Einrichtung eines Überbrückungsfonds vorgeschlagen

Der KDA-Vorstandsvorsitzende Kneppe fordert deshalb den Sockel-Spitze-Tausch: „Mit diesem Instrument könnten künftig auch ad-hoc Regelungsbedarfe auf der Grundlage eines funktionierenden Finanzierungssystems gelöst werden. Es wäre nicht mehr notwendig, bei akut auftretenden Finanzierungsbedarfen – wie z.B. die aktuell explodierenden Energiekosten – mit bürokratischen und möglicherweise systemfremden Teillösungen Reparaturen vorzunehmen“, sagte Kneppe. Der KDA-Chef wies auch darauf hin, „dass die Folgen einer Sozialhilfe-Inanspruchnahme dauerhaft für pflegebedürftige Menschen und ihre Familien” seien, die aktuellen Krisen aber hoffentlich vorübergingen. Überbrückungsgelder könnten helfen, so Kneppe: „Die Würde und Lebensleistung dieser Menschen erfordern hier ein klares Bekenntnis.” Durch die Einrichtung eines Überbrückungsfonds könne verhindert werden, dass die Energiekostensteigerung auf die Bewohner und deren Familien abgewälzt wird. Damit werde zugleich verhindert, dass die Kommunen mit zusätzlichen Sozialhilfeanträgen belastet werden.


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Mehr Pioniergeist bei Reform der Pflege 


Landesministerin: Pflege darf nicht zu einem Armutsrisiko werden

Handlungsbedarf sieht auch die Brandenburger Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne). Sie verlangt eine Reform der Pflegeversicherung auf Bundesebene, eine Deckelung beim Eigenanteil, damit die Pflegebedürftigen „nur bis zu einem bestimmten Sockelbeitrag mitherangezogen“ werden. Nonnemacher fügte im Gespräch mit dem Sender rbb hinzu: „Weitere Kostensteigerung sind von der Pflegeversicherung zu übernehmen.“ Denn sobald keine rasche Hilfe komme, bleibe vielen Betroffenen nur der Gang zum Sozialamt. Damit bezahlen Steuerzahler indirekt die Tarifanpassungen in der Pflege. Die Ministerin betont: „Das ist wieder eine Umverteilung, die Kosten für Sozialhilfe steigen seit Jahren, und das merkt sozusagen der Staat mit seinem Hilfssystem dann auch wieder.“ Nonnemacher mahnt: Pflege dürfe nicht zu einem Armutsrisiko werden. „Gute Pflege muss für jede und jeden Menschen möglich sein.“

Eigenanteile steigen weiter 

„Wir werden in der stationären Pflege die Eigenanteile begrenzen und planbar machen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Derzeit steigen aber genau diese Eigenanteile weiter. Wie die Kosten an Bewohnerinnen und Bewohner weitergegeben werden, hängt von den Verträgen und zum Beispiel von der Größe der Einrichtung ab. „Ab wann steigende Energiekosten umgelegt werden, unterscheidet sich sicherlich in Abhängigkeit von der Größe des Heimbetreibers“, erklärt André Vater, Vorstand der Bremer Heimstiftung und Aufsichtsratsmitglied des KDA. „Kleinere Betreiber werden die Kostendynamik sehr zeitnah spüren und sicher auch zeitnah umsetzen.“ Größere Betreiber hätten künftige Energiebedarfe über Terminkontrakte für längere Zeit zu niedrigeren Konditionen festgezurrt. Bis zu zwei Jahre lang könnten Heimbewohnerinnen und -bewohner sicher sein vor steigenden Energiekosten. So lange laufen Vater zufolge die längsten Verträge mit den Energieversorgern. Im betreuten Wohnen sind Preiserhöhungen in der Regel nur jährlich möglich. Hier wird aktuell eine gesetzliche Änderung vorbereitet. Das Erhöhungsverfahren für die Heimentgelte ist im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) geregelt. Demnach muss jeweils nachgewiesen werden, dass sich die Berechnungsgrundlage für die Heimentgelte geändert hat.

An der Grenze der finanziellen Belastbarkeit

Die aktuelle Entwicklung bereitet auch dem Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) große Sorgen. Thomas Moormann, Leiter Team Gesundheit und Pflege beim vzbv, nannte die seit dem 1. September geltende Tariftreueregelung eine wichtige Maßnahme zur Aufwertung des Pflegeberufs. Zugleich gehe sie auf Seiten der Pflegebedürftigen mit Kostensteigerungen einher, „die insbesondere im ambulanten Bereich erhebliche Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit von Pflege haben werden“. Aufgrund der Energiepreiskrise seien viele Verbraucher längst an der Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit angekommen, erklärte Moormann. In Folge der Tariftreueregelung stünden viele Pflegebedürftige deshalb vor der Wahl, für das gleiche Geld weniger Leistungen zu erhalten oder Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.

Moormann: „Die Bundesregierung muss umgehend gegensteuern und ihre Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlösen. Dazu gehört eine verbindliche, jährliche Anpassung der Leistungssätze und ein erhöhter und zweckgebundener Bundeszuschuss aus Steuermitteln zur sozialen Pflegeversicherung (SPV) zur Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie den Rentenversicherungsbeiträgen für pflegende Angehörige und pandemiebedingten Zusatzkosten.“ Er betonte weiter: „Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen brauchen dringend eine Entlastung, nicht alleine in finanzieller Hinsicht, auch durch Flexibilisierung und Vereinfachung der Leistungsinanspruchnahme und Verbesserung der Versorgungsangebote.“


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Für viele bleibt nur noch der Gang zum Sozialamt 

Die meisten Einrichtungen und Anbieter haben nach Einschätzung des Sozialverbandes VdK bereits vor dem Stichtag 1. September begonnen, ihre Pflegekräfte besser zu bezahlen – und im Gegenzug dafür ihre Leistungen verteuert. Viele VdK-Mitglieder berichteten dem Bundesverband seit Wochen von immensen Preissteigerungen, teils von 30 bis 40 Prozent für die Pflegeleistung. VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte, der Sozialverband VdK begrüße die tarifliche Bezahlung von Pflegekräften zwar ausdrücklich: „Aber die Politik hat es versäumt, vernünftig gegenzufinanzieren. Deshalb werden nun Pflegebedürftige zur Kasse gebeten.“ Für viele bleibe da nur noch der Gang zum Sozialamt.

Der Verein „wir pflegen“ kritisiert, dass es zur Entlastung von Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen gestaffelte Zuschüsse zu den Eigenanteilen seitens der Pflegekasse gebe. Eine entsprechende Entlastung für die häusliche Pflege fehle jedoch. Wieder einmal sei „die häusliche und ambulante Pflege, trotz ihres Löwenanteils von 80 Prozent an der Gesamtversorgung in Deutschland, vergessen“ worden.

Energiekostenschutzschirm gefordert

Gesundheitspolitiker der Grünen im Bundestag haben unterdessen einen Vier-Punkte-Krisenplan erarbeitet. Kernforderung: Bund und Länder müssten den Krankenhäusern bei der Bewältigung der steigenden Energiekosten und der hohen Inflation zügig und substanziell unter die Arme greifen. Das Papier, über das zuerst der „Spiegel“ berichtete, haben die Fachpolitiker Janosch Dahmen, Sprecher der Fraktion für Gesundheitspolitik, Maria Klein-Schmeink, Armin Grau und Kordula Schulz-Asche verfasst. Ohne ein umfassendes Maßnahmenpaket drohe Gesundheitseinrichtungen in allen Landesteilen wegen fehlender Liquidität die Insolvenz. Es komme nun darauf an, notwendige Unterstützungsmaßnahmen „zielgenau dorthin zu steuern, wo sie gebraucht werden“. Zeitnah sollte es beispielsweise einen Energiekostenschutzschirm für stationäre Pflege-, Reha- und Gesundheitseinrichtungen geben, und zwar auf der Grundlage der tatsächlichen Preissteigerungen. Das Instrument sollte auf zunächst sechs Monate begrenzt werden.

Kurzfristig sei zudem eine Inflationskostenbremse erforderlich. Grundsätzlich dürften Strukturreformen nicht weiter aufgeschoben werden. „Im Schnitt verbraucht ein Krankenhausbett heute bereits so viel Energie wie ein Einfamilienhaus“, erklären die Grünen. Um Investitionen in die Energieeffizienz zu fördern, schlagen die Fachpolitiker einen von Bund und Ländern getragenen Klimaschutzfonds für das Gesundheitswesen vor.

 

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