Putins Drohung mit Atomwaffen: Von Risiken und Nebenwirkungen
Russlands Herrscher spielt mit dem Feuer, weil er den Einsatz von Massenvernichtungswaffen für eine Option hält. Der Tyrann mag bluffen, aber die Realität ist: Mit der Atombombe wird so deutlich gedroht wie seit Jahrzehnten nicht.

Kreml-Herrscher Wladimir Putin steht unter Druck. Die Teilmobilisierung sei ein Offenbarungseid, sagen viele Experten. Nun hat er die Annexion ukrainischer Gebiete bekanntgegeben, die als "russisches“ Gebiet verteidigt werden sollen. Es sind die Mittel, die Russlands unberechenbarer Herrscher in der Hand hat, die den gesamten Krieg unberechenbar machen.
Sollte Russland Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen, würden die USA "entschlossen reagieren", sagte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan vor kurzem. Er nannte die Lage "todernst“. Zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow vor den UN in New York weiteres Öl ins Feuer gegossen und erklärt, nach der Annexion von Gebieten in der Ukraine würde die russische Atomdoktrin auch für diese Gebiete gelten. Lawrow behauptete gar, dass es in der Nato Pläne für den Einsatz von Atomwaffen gebe. Die Ansage der USA ist zumindest deutlich: Sie haben Putin für den Fall eines Atomwaffeneinsatzes gedroht, dass sie das russische Militär in der Ukraine mit konventionellen Waffen vernichten würden. Eigene Truppen aber, das ist bisher die Maxime in Washington, werden nicht in der Ukraine kämpfen.
In Deutschland richten sich, je komplexer die Nebenwirkungen des Krieges werden, die Blicke verstärkt auf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Seine vorsichtige Haltung hat Scholz schon oft mit dem möglichen Eskalationspotenzial des Ukraine-Krieges begründet. Aus Opposition und Teilen der eigenen Ampel-Regierung erntete der Bundeskanzler Gegenwind. Er wurde als mutloser, ängstlicher Zauderer bezeichnet, weil er beispielsweise bislang keine Leopard 2 Panzer liefern will.
Doch in den vergangenen Tagen hat sich eine Veränderung vollzogen. Scholz’ Zögern offenbart sich für jeden sichtbar als das, was es immer war: als Besonnenheit. Zugleich wird deutlicher, dass Scholz sehr entschlossen ist, wenn es um die Verteidigung Europas geht. Die Änderung in der Wahrnehmung von Scholz hat ein einziges Wort bewirkt: "Bluff." In seiner Ansprache über die Teilmobilisierung in Russland und die (Schein-)Referenden hatte Putin unverhüllt gedroht: "Im Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes und zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes werden wir mit Sicherheit von allen uns zur Verfügung stehenden Waffensystemen Gebrauch machen. Dies ist kein Bluff."
Auch US-Präsident Joe Biden nimmt dies sehr ernst. Einmal sagte er in Richtung des Kreml-Tyranns: "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden." Ein anderes Mal warnte er den Kreml-Diktator eindringlich: "Unterlassen Sie es.“ Die Sorgen, dass Putin womöglich nicht blufft, müssen groß sein in Washington, wenn der Präsident so deutlich Stellung nimmt. Russland will sein Staatsgebiet vergrößern, die Ukraine wird keine Annexionen.
Vernunftgeleitetes Handeln bedeutet, Eskalationsrisiken zu analysieren. John Bolton, Ex-Sicherheitsberater unter Donald Trump, glaubt, dass ein Nuklearkrieg mit Russland näher gerückt sei als je zuvor: "Putin könnte die Atomwaffe einsetzen, um seine Position zuhause zu stärken." Er glaube nicht, dass Russland den Krieg aufgebe. "Das wäre ein Signal der Schwäche mit politischen Auswirkungen." Schwäche könne sich aber auch der Westen nicht erlauben.
Die aktuellen US-amerikanischen Einschätzungen sind als Bestätigung der von Augenmaß geprägten Motivation des Kanzlers zu bewerten. Sie sind bemerkenswert, weil sie so wenig zusammenpassen mit der permanenten Kritik an der Haltung des Kanzlers, der rote Linien möglichst nicht austesten will. "Ich tue alles“, so Scholz, "um eine Eskalation zu verhindern, die zum dritten Weltkrieg führt“.
In Deutschland gingen zuletzt vor allem konservative Politikkreise meist von einem "Bluff“ aus. Man dürfe sich ohnehin nicht in seinen Handlungen durch Putins Äußerungen leiten lassen, heißt es bezüglich der Lieferung schwerer Waffen. Woher man hierzulande wissen will, dass Putin blufft? Das bleibt offen. Ebenso wie Annahmen, es sei doch gar nicht sicher, ob Putin jemand finde, der auf seinen Befehl hin einen Atomschlag gegen die ukrainische Armee durchführt. Auf Befehlsverweigerung im System Putin sollte man sich nicht verlassen. Und dass ihn der ultimative Tabubruch zum Paria unter seinen wenigen verbliebenen Partnern machen würde, schert ihn vielleicht gar nicht.
Der CDU-Außenpolitiker und überzeugte Transatlantiker Norbert Röttgen ist der Ansicht, dass nur der militärische Erfolg der Ukraine die Grundbedingung für Diplomatie und Frieden sei. Röttgen sprach früh davon, man dürfe sich nicht von der "Angstpropaganda" Putins beeindrucken lassen. Dann twitterte er fast zeitgleich zu Bidens Äußerungen: "Wir dürfen die Angstrhetorik von #Putin nicht übernehmen. Der Einsatz von #Atomwaffen ist keine reale Option für ihn. Er würde die gesamte Welt unter Einschluss von China gegen sich aufbringen, militärisch nichts erreichen & auch im eigenen Land endgültig Proteste auslösen.“ Nur: Tendiert Putin vielleicht zu einer irrealen Option?
Regiert "German Angst“ im Weißen Haus? Oder Vorsicht?
Und außerdem: Heißt das im Umkehrschluss, Joe Biden ist von Angstrhetorik getrieben, wenn er auf Putins Drohungen reagiert, "German Angst“ im Weißen Haus? Oder ist es nicht kluge Vorsicht, die jenseits des Atlantiks ebenso wie hier im Kanzleramt waltet, die das eigene Land und Bündnispartner wenigstens auf Risiken und Nebenwirkungen hinweist? Das Nichtreflektieren von Risiken kann nicht die Lösung sein.
Ein deutsches Boulevardblatt bewertete Putins jüngste Aussagen als "Maulheldentum“. Ähnliche Einschätzungen wie "Maulheldentum" waren auch nach Putins Wutrede vom 21. Februar zu hören. Drei Tage später griff Russland Kiew und viele andere ukrainische Städte mit Raketen an. Offensichtlich ist, dass vor allem sehr gut informierte Politiker mit exklusivem Zugang zu Regierungsquellen davor warnen, sich auf einen Bluff zu verlassen. Die Ukraine kämpft heute tapfer gegen den Aggressor, der deutlich auf alle Verträge, Abkommen und Werte der Staatengemeinschaft pfeift. Aber im Westen fragt man sich zuweilen, ob es Grenzen für Heldentum gibt, ohne zugleich die weiße Fahne der Kapitulation hissen zu müssen.
Nun wird wieder über neue Sanktionen gesprochen. Zur Erinnerung: Schon beim ersten von inzwischen sieben EU-Sanktionspaketen war man sicher, Putin damit in die Knie zu zwingen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte damals: "Das wird Russland ruinieren.“
Scholz in Richtung Putin: Lass es bleiben!
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte deutlich, dass er wie Biden die Atomdrohungen Putins ernst nimmt, sprach von einer nuklearen Erpressung: "Ich glaube nicht, dass er blufft." Scholz hat sich inzwischen die Wortwahl Bidens zu Eigen gemacht. Der Kanzler sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung" auf die Frage, ob Putin seine Drohungen wahrmachen könnte: "Wer weiß das schon? Wie US-Präsident Joe Biden will ich aber ganz klar in Richtung Russland sagen: Lasst es bleiben!" Zornig zeigte sich der Kanzler mit Blick auf ständige Vorhaltungen, Deutschland liefere zu wenig.
Tatsächlich wird in Debatten wenig anerkannt, dass Deutschland zu den international größten militärischen Unterstützern der Ukraine gehört, hinter den USA und Großbritannien auf Platz 3 liegt. Dass die Union hier argumentiert, Deutschland leiste viel weniger als beispielsweise die baltischen Staaten, wenn man den Anteil der Waffenexporte auf das Bruttosozialprodukt umrechne, und daher in der Rangliste weiter hinten liegen müsste, scheint beliebig. Wenn man das BIP zugrunde legt, dann müsste wohl so manches Ranking aus den vergangenen beiden Jahrzehnten, in dem unsere Regierungen Deutschland als führend priesen, neu berechnet werden.
Ein Fall für das Nato-Bündnis – ohne dass es einen Bündnisfall gibt
Deutschland ist bisher im völkerrechtlichen Sinn nicht "Kriegspartei“. Dennoch: Einsatz von so viel Kriegsgerät aus Deutschland hat es so seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Deutschland lieferte bis Mitte September u.a. 500 Stinger-Raketen, die in den ersten Kriegswochen halfen, den Vormarsch der Putin-Armee aufzuhalten. Effektiv im Einsatz: der Flakpanzer Gepard, der Raketenwerfer Mars, die Panzerhaubitze 2000, das Artillerieortungsradar Cobra. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Fall für das Nato-Bündnis geworden – ohne dass es den Bündnisfall gibt. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hat sich gerade erst bei Deutschland für die Zusage bedankt, weitere Panzerhaubitzen zu liefern: "Die Militärhilfe unserer deutschen Freunde ist ein wichtiger Teil unseres gemeinsamen Sieges über die Terroristen.“
Ob die Union etwa Biden auch für einen Zauderer halte, weil dieser keine schweren Kampfpanzer liefere, fragte im Bundestag SPD-Politiker Dietmar Nietan. Vor allem in der SPD hat sich der Eindruck manifestiert, dass die Opposition die Waffendebatte parteitaktisch nutzt. Die Union weist den Vorwurf entschieden zurück. Man sei allein vom Gedanken motiviert, die Werte Europas und den Freiheitskampf der Ukraine zu verteidigen.
Dass es in der Ampel Politiker (z.B. Strack-Zimmermann/FDP, Hofreiter/Grüne) gibt, die die eigene Regierung und das Kanzleramt unablässig in der Frage der Lieferung schwerer Waffensysteme unter Druck setzen, permanent betonen, wie hilfreich Panzer aus deutschen Rüstungsschmieden wie der Düsseldorfer Rheinmetall sein könnten, das macht die Besonnenheit nicht einfacher. Apropos Rheinmetall, dessen Cheflobbyist der frühere FDP-Generalsekretär Dirk Niebel ist: Die Auftragsbücher sind offenbar derart gefüllt, dass die Stimmung prächtig zu sein scheint. Eine Reaktion auf eine Anfrage dieser Redaktion, einige Wochen nach Kriegsbeginn, war unterschrieben mit: "Horrido und Panzer Hurra".
Krieg ist teuer, in jeder Hinsicht
Es scheint, als diene das Putin-Blufft-Narrativ hierzulande auch dazu, zu verhindern, dass die militärischen Hilfen für die Ukraine aus Angst infrage gestellt werden. Deutschland spürt dramatisch die Folgen des Krieges, der Sanktionen und der daraus folgenden Preissteigerungen. Die Wirtschaft wankt. Parallel gerät der soziale Frieden unter Druck. Die Bundesregierung versucht, gegenzusteuern. Gerade wurde ein 200-Milliarden-Entlastungspaket aufgelegt, im Februar verkündete Scholz ein 100-Milliarden-Extrapaket für die Bundeswehr. Krieg ist teuer, in jeder Hinsicht, und nichts braucht es mehr als die Solidarität der Menschen.

Erich Kästner: Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie
Die Regierenden ahnen, dass die Unterstützung mit Kriegsgerät auf dünnem Eis gebaut sind. Laut aktuellem RTL/n-tv-Trendbarometer fürchten 55 Prozent der Befragten, dass sich der Krieg ausweiten oder sogar zu einem dritten Weltkrieg entwickeln könnte. Von Erich Kästner stammt der Satz: Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.
Apropos Phantasie: Dass ausgerechnet CDU-Chef Friedrich Merz dieser Tage von Sozialtourismus sprach und das Unwort des Jahres 2013 auf ukrainische Flüchtlinge ummünzte, just nach der Italienwahl, schafft ein Klima, welches die Solidarität mit der Ukraine und ihren Flüchtlingen infrage stellen kann. Wie kann man einerseits die Unterstützung der Nation für Waffenlieferungen einfordern, zugleich aber Zweifel an der kollektiven Redlichkeit von Kriegsflüchtlingen säen? Merz hat die Axt angelegt an den kräftigen Baum der Solidarität.
Solidarität brauchen wir nicht nur im eigenen Land, sondern auch international. Zu viel ist unbeantwortet. Wie kann verhindert werden, dass die Unterstützung der Ukraine die Nato zur Kriegspartei macht? Welchen Akt eines Nato-Landes könnte Moskau als Kriegseintritt bewerten? Selbst wenn man die völkerrechtswidrige Annexion der Gebiete durch Russland nicht anerkennt, stellt sich die Frage: Wie wird Russland reagieren, wenn die Ukraine diese Regionen mit Hilfe westlicher Waffen zurückerobern will?

Am Freitag verkündete Staatschef Putin die gewaltsame Verschiebung der Grenzen. Es handelt sich um die im Osten und Süden der Ukraine gelegenen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Die Bewohner der Gebiete in der Ukraine würden "auf ewig unsere Bürger“, erklärte Putin. Er fordere "das Kiewer Regime auf, die Gefechte sofort einzustellen, alle Feindseligkeiten einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“, sagte Putin. "Dazu sind wir bereit.“Die Botschaft der Besatzungsmacht scheint klar: Wir haben was wir wollen, nun sind Kiew und der Westen am Zuge, diesen Konflikt zu unseren Bedingungen zu beenden.
Und auf einmal kann Kremlsprecher Dmitri Peskow verkünden: "Leute, die von einer atomaren Eskalation reden, handeln sehr unverantwortlich.“ Peskow mahnte die fragenden Journalisten, sie sollten die russische Militärdoktrin genauer lesen: "Dort ist die richtige Formulierung sehr wichtig. In der Doktrin steht, dass ein Atomwaffeneinsatz möglich ist, wenn durch einen Angriff mit konventionellen Waffen die Existenz Russlands selbst auf dem Spiel steht.“ Zu Russland gehören dieser Lesart nach nun auch die besetzten Gebiete.
Die russische Nukleardoktrin
Die "Deutsche Welle“ befragte den Sicherheitsexperten Wolfgang Richter, einen fachkundigen Ex-Oberst. Er legt die russische Nukleardoktrin so aus, dass es nur zwei Einsatzfälle gebe: Erstens, wenn Russland selbst durch Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen angegriffen wird. Zweitens, wenn die Existenz und das Überleben des russischen Staates auf dem Spiel steht. Das wird im Zweifelsfall Auslegungssache sein. So erklärte Ex-Präsident Dmitri Medwedew, Putin-Marionette und inzwischen dortiger Kriegsrhetoriker Nummer Eins, auf der Plattform Telegram, sein Land habe das Recht, sich im Zweifel mit Atomwaffen zu verteidigen.
"Angenommen, Russland ist gezwungen, die fürchterlichste Waffe gegen das ukrainische Regime einzusetzen, das eine schwere Aggression begangen hat, die für die Existenz unseres Staates gefährlich ist“, schrieb Medwedew. "Ich glaube, dass sich die Nato auch in dem Fall nicht direkt in den Konflikt einmischen würde. (...) Die Demagogen jenseits des Ozeans und in Europa werden nicht in einer nuklearen Apokalypse sterben.“ Eins ist sicher: Völkerrechtliche Fragen interessieren Wladimir Putin nicht.
Über die Ausgestaltung einer europäischen Friedensordnung nach dem Krieg hört man wenig. In der Union heißt es, Deutschland müsse bei seinen Waffenlieferungen jetzt schon daran denken, was die Ukrainer benötigen, um gegen eine Frühjahrsoffensive der russischen Armee zu bestehen. Die Langfristplanung geht hierbei von Krieg aus, nicht von Frieden.
Russland verfügt über rund 6250 atomare Sprengköpfe
Russland gilt als die mächtigste Atommacht der Welt. Laut dem Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm (Sipri) besitzt das russische Militär rund 6250 atomare Sprengköpfe. Weltweit soll es etwa 13.000 atomare Sprengköpfe geben. Auch in der russischen Exklave, Luftlinie gerade einmal 500 Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt, hat Russland Atomraketen stationiert.
Scholz fühlt sich seinem Amtseid verpflichtet
Sein Handeln hat Scholz ausführlich begründet. Mit einer atomaren Drohung könne man nicht umgehen, indem man optimistisch ein Null-Risiko den Bewertungen zugrunde lege. Die Nato dürfe nicht in einen Krieg mit Russland gezogen werden, mahnt der Kanzler. Darunter aber müsse Deutschland "alles dafür tun, dass so schnell wie möglich die Waffen schweigen und Russland seine Truppen aus der Ukraine zurückzieht", sagte er dem "Stern". Die Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern sei unmissverständlich gewesen. Ebenso wie die Entscheidung, sich eng mit den Partnern der Bundesrepublik abzustimmen. Seinen Satz, "ich mache keine Alleingänge, zu keiner Zeit" verstehe jeder und jede. Er betonte: "Es darf keinen Atomkrieg geben." Schützen müsse er auch die Deutschen, getreu seines Amtseides.
Ein Atomkrieg kennt nur Verlierer
Der 6. August 1945, der Tag, an dem sich über Hiroshima das Tor zur atomaren Hölle öffnete, hat in der Folge Atomstaaten nicht nur ein mächtiges, vernichtendes militärisches Werkzeug gegeben – sondern es hat im Gegenzug auch das immense Ausmaß der Bedrohung jedem vor Augen geführt. Ein Atomkrieg kennt nur Verlierer. Der Christdemokrat Wolfgang Schäuble, ehemals Bundestagspräsident, hat gerade bei einer Preisverleihung an Friedensnobelpreisträger Lech Walesa in Berlin an den Kalten Krieg erinnert. Er sagte: "Die Abwesenheit von heißem Krieg nach 1945 war gegründet auf der gegenseitigen atomaren Vernichtbarkeit." Schäuble: "Wie sollte das ohne eine die Menschheit auslöschende Katastrophe zu Ende gehen?" Und auch heute gebe es eine Situation, in der keiner ganz sicher sei, wie "das ohne Katastrophe zu Ende gehen kann".
"Wer als erster schießt, stirbt als zweiter" - so lässt sich die bisherige atomare Abschreckungsstrategie beschreiben. Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens war lange Garant dafür, dass es keinen Atomkrieg gab – abgesehen von der ernsthaften Gefahr eines versehentlichen Krieges.
Schon mehrmals blickte die Welt - meist unbemerkt von der Öffentlichkeit - in den atomaren Abgrund, weil Warnsysteme falschen Alarm schlugen. In einem offenen Brief an die Bundesregierung haben im Juni führende Mitglieder der Gesellschaft für Informatik Empfehlungen zum Umgang mit Atomkriegsrisiken abgegeben. Im Fokus standen Fehler in Frühwarnsystemen für nukleare Bedrohungen, die dafür entwickelt wurden, Angriffe mit Atomwaffen so früh zu erkennen, dass ein atomarer Gegenschlag ausgelöst werden kann ("Launch on Warning“).
In dem offenen Brief heißt es: "Die aktuelle Lage führt zu einer erhöhten Gefahrensituation. Auch wenn grundsätzlich eine große Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen besteht, könnte Russland ihren Einsatz in Erwägung ziehen, etwa wenn der russische Präsident die Existenz seines Landes bedroht sieht oder die Nato aus russischer Sicht zu sehr in den Krieg eingreift. Wenn mehrere solcher Kriterien jeweils zu einem gewissen Grad gleichzeitig zutreffen und womöglich zusätzlich ein Fehlalarm in einem Frühwarnsystem auftritt, kann dies Anlass für ein ‚Launch on Warning‘ sein.“
Viele Werkzeuge der Kriegsführung
Für denkbar halten es Militärexperten, dass Putin taktische Atomwaffen einsetzen könnte – möglicherweise als Demonstrationsschlag. Eine taktische Atomwaffe käme nicht im Gefecht zum Einsatz, sondern diene als Mittel der Warnung. Eine solche Explosion könnte in großer Höhe erfolgen, zum Beispiel über der Ostsee oder dem Schwarzen Meer oder in dünn besiedelten Gebieten.
Die Ostsee ist ein meist ruhiges Meer - einmal davon abgesehen, dass es nun Lecks in den Nord-Stream-Röhren gibt, aus denen russisches Gas entweicht. Diese Sabotage zeigt, dass es viele Werkzeuge der Kriegsführung gibt.
Ein Atomkrieg light mit taktischen Atomwaffen?
Taktische Atomwaffen seien in der Wirkung nicht mit strategischen Kernwaffen vergleichbar, sie könnten als sogenannte Gefechtsfeldwaffen zielgerichtet eingesetzt werden, ohne dass es zu einem umfassenden Atomkrieg kommen müsse. Das sagen manche Militär-Strategen. Andere warnen: Auch ein "Atomkrieg light“ hätte verheerende Folgen. Interessant ist an dieser Stelle: Es war die ehemalige Sowjetunion, die der Nato-Nuklearstrategie Flexible Response vorwarf, irreal zu sein. Die Strategie ging davon aus, dass ein begrenzter, kontrollierbarer Einsatz von Atomwaffen gegen den Warschauer Pakt möglich sei. Es gibt taktische Atomwaffen, die wirkmächtiger als die Bombe sind, die 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde - "Little Boy" hatte rund 13 Kilotonnen.
Für den Weltfrieden stellen taktische Atomwaffen nach Meinung vieler Fachleute sogar eine größere Gefahr dar als strategische Atomraketen. Letztere dienten der Abschreckung, ein realer Einsatz sei unwahrscheinlich, taktische Nuklearwaffen dagegen "haben die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen verringert und auch die möglichen Gründe für ihren Einsatz diffuser gemacht", erklärte etwa Götz Neuneck, Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Machen also die aktuellen Drohungen, das Zeigen der neuen Folterwerkzeuge, die Welt unsicherer? Unumwunden hat gerade Großbritanniens Premierministerin Liz Truss auf die Frage eines Moderators geantwortet, wie es sich anfühlen würde, den Atomknopf zu drücken.
Ohne zu zögern sagte sie: "Ich bin bereit das zu tun!“
Eine Gleichung mit vielen Unbekannten
Sind Kriege dieser Größenordnung gegen einen skrupellosen Aggressor, der über ein großes Atomarsenal verfügt, überhaupt zu gewinnen? Die Sowjets verließen einst geschlagen das Schlachtfeld in Afghanistan. Aber dieser Konflikt ist nicht vergleichbar mit den Risiken und Nebenwirkungen des Ukraine-Krieges. Die Annahme, das nukleare Gleichgewicht werde schon funktionieren während eines heißen Krieges, ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Nach Einschätzung des Russland-Experten Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck ist das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes im Kontext der Scheinreferenden höher als je zuvor. Die Annexionen "heben die Eskalationsstufe deutlich“, sagte er dem "RND".

Carlo Masala, der an der Bundeswehr-Universität in München lehrt, urteilt, auch wenn die Drohgebärden nicht verharmlost werden dürften, sei Putin schließlich kein "suizidaler Akteur". Es macht Politik und Politikwissenschaft aus, dass sie versuchen, die Gedankenwelt der Gegner der Freiheit zu entschlüsseln. Tatsächlich hat sich aber gezeigt, dass die Vorhersagen darüber, wozu Putin bereit ist, nicht sicher sind.
Hinzukommt, dass Versuche, Vorhersagen zu treffen, um Strategien zu entwickeln, schnell in das Kästchen "Putin-Versteher“ verbannt werden. In der Debatte in Deutschland ist gerade derjenige besonders umstritten, der sich als Politiker oder als Militärexperte wie etwa Harald Kujat, früher Generalinspekteur und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, Gedanken um diplomatische Initiativen macht.
Das Beispiel Kretschmer: Kritik aus der eigenen Partei
Auf den möglichen Kollateralschaden, dass der Kampf um die Freiheit in der Ukraine die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt hierzulande beschädigen könnte, weisen nur wenige hin. Dazu gehörte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der sich schnell den Zorn aus Ampel und Union und die Wut des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk zuzog. Kretschmer plädierte dafür, dass der Krieg "eingefroren“ werden müsse.
Kretschmer treibt offenkundig die Sorge um, dass populistische Kräfte neuen Auftrieb bekommen könnten. Kretschmer sagte: "Ich glaube, dass das ein großes Problem in der aktuellen Debatte ist: Dass wir eine Verengung auf eine Sichtweise, eine Argumentationslinie haben.“ Es gelte, mehr Sorgen zu diesem Thema zuzulassen. Aus der eigenen Partei attackierte ihn u.a. der Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, verglich Kretschmer mit einem Geisterfahrer. Kiews Diplomat Melnyk sprang Wanderwitz via Twitter bei: "Endlich kriegt Putin-Fan und Russland-Anbeter Michael Kretschmer in die Fresse auch aus den eigenen Reihen der CDU Sachsen.“
Der Diskurs ist aus den Fugen geraten. Ist mutig, wer sich dem Twittersturm aussetzt? Oder feige, wer die Rufe nach immer mehr Waffen nicht erfüllen mag? Sind die Mutlosen, die, die für Diplomatie werben, oder sind es inzwischen nicht die wahren Mutigen?
Kompatibilität des Denkens?
Die transatlantische Haltung geht nach wie vor davon aus, dass die eigene, vom Schutz- und Freiheitsgedanken getriebene Denkweise geeignet ist, das Denken des Kreml-Herrschers einzuschätzen. Ob das noch zutrifft?
Teile der SPD halten in dieser unübersichtlichen Lage an der Idee der Entspannungspolitik fest: In einem Appell fordert eine Gruppe von SPD-Politikern, auf einen schnellstmöglichen Waffenstillstand zu drängen. Die Autoren plädieren für eine Vermittlerrolle Chinas, stellen sich gegen Aufrüstungspläne und warnen mit Verweis auf die Gefahr eines Atomkriegs vor der Lieferung schweren Kriegsgeräts. Mit Kampfpanzern oder Kampfjets würde man eine "rote Linie“ überschreiten, Russland werde das "als Kriegseintritt“ wahrnehmen.
Der frühere SPD-Politiker und ehemalige Club-of-Rome-Präsident Ernst Ulrich von Weizsäcker verfasste im Frühjahr eine Denkschrift im Namen der von Erhard Eppler gegründeten Gruppe "Frieden 2.0.". Der Schlüssel zur Lösung des Ukraine-Konfliktes liege in China, nicht im Westen, den viele Länder des globalen Südens als arrogant betrachten würden. Es gelte, die Länder des Südens nicht zu verlieren, die ebenso von den Folgen des Krieges betroffen seien.
Sigmar Gabriel: Wir dürfen uns der Gewalt Putins nicht beugen
Der frühere Außenminister und Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte indes dem "Spiegel“: "Wir dürfen uns der Gewalt Putins nicht beugen, sonst sind wir selbst irgendwann seine Opfer. Es geht um unsere Selbstachtung und die Freiheit unserer Kinder. Und dafür ist das, was uns jetzt abverlangt wird, nicht wirklich viel. Wir müssen eigentlich nur für eine überschaubare Zeit bereit sein, zusammenstehen, ein paar Prozent Energie einsparen und die Kraft unseres Landes richtig einsetzen.“
Gabriel glaubt, dass der Krieg nicht so schnell zu Ende gehen wird: "Putin kann nicht aufgeben, und die Ukraine kann nicht auf 20 Prozent Ihres Territoriums verzichten. Kriege enden in der Regel, indem einer verliert oder beide Seiten kriegsmüde sind. Beides ist nicht in Sicht.“ Gabriel lobte seinen Parteifreund Scholz, weil dieser Deutschland nicht in den Krieg führen wolle: "Ich glaube, dass er damit das tut, was 90 Prozent der Deutschen auch wollen. Mich wundert oft, mit welcher Leichtigkeit manchmal bei uns die Ausweitung des Krieges gefordert wird. Wir haben ja eine paradoxe Lage: Frühere Wehrdienstverweigerer fordern Panzer für die Ukraine, und unsere Generäle mahnen zur Vorsicht.“
Guterres: Unglaublich gefährlich und unverantwortlich
Mit eindringlichen Worten hat UN-Generalsekretär António Guterres unlängst vor Grenzüberschreitungen gewarnt und die Abschaffung von Atomwaffen gefordert. "Unsere Welt wurde lange genug von Atomwaffen als Geisel gehalten", schrieb er. "Diese Todesgeräte garantieren weder Sieg noch Sicherheit." Die nuklearen Risiken seien heute so hoch wie noch nie.
Auch aus Sicht der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) hat Putin allein durch sein Gerede das Risiko eines nuklearen Konflikts drastisch erhöht. Die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Organisation kritisierte Putins Erwähnung von Atomwaffen im Zuge der Teilmobilmachung als "unglaublich gefährlich und unverantwortlich".
Baerbock spricht von Kaffeesatz-Leserei
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) betont, Putin gehe es nun erst einmal darum, mit dem Schüren von Ängsten die westliche Unterstützung für die Ukraine zu brechen. "Wenn wir die Drohung mit Nuklearwaffen akzeptieren oder davor zurückschrecken würden, dann wäre die Charta der Vereinten Nationen zunichte“, sagte sie.
Der TV-Moderator Markus Lanz wollte von ihr wissen, wie Putins erneute Drohung mit Atomwaffen zu verstehen sei. "Sie müssen ja zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es genauso gemeint ist“, fragte er. Und: "Ist der Satz 'Das ist kein Bluff' genau der Bluff?“ Baerbock entgegnete: "Das ist sehr schwierig zu sagen, weil es am Ende auch so ein bisschen Kaffeesatz-Leserei ist."
So ist es die Unberechenbarkeit Putins, die letztlich einen Streit über die Frage, ob Bluff oder nicht, obsolet macht.