„Berlin muss die Wahl wiederholen und zwar rechtmäßig”
Vertauschte oder fehlende Stimmzettel, hunderte Meter lange Schlangen, Briefwahlunterlagen, die an 16-Jährige verschickt wurden, „geschätzte” Ergebnisse bei Bezirkswahlen, und ein Marathon, der das Nachliefern von Stimmzetteln fast unmöglich machte - das Chaos bei den Berlin-Wahlen hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Inzwischen wachsen die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl in der Hauptstadt. Der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Patrick Sensburg, sieht objektive Wahlrechtsverstöße.

Patrick Sensburg, Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages, sieht die Pannen bei der Wahl in Berlin als möglicherweise so schwerwiegend an, dass eine Wiederholung zumindest der Wahlen zum Abgeordnetenhaus denkbar sein könnte. Sensburg berichtete zudem über zahlreiche Beschwerden auch zum Ablauf der Bundestagswahl in Berlin. Einige Wählerinnen und Wähler ließen sich rechtsanwaltlich vertreten, so Sensburg.
Verstöße könnten durchaus mandatsrelevant sein
Sensburg sagte der „Heilbronner Stimme”: „Bei der Berlin-Wahl zum Abgeordnetenhaus sehe ich objektive Wahlrechtsverstöße. Die Ergebnisse waren teilweise so knapp, dass die Verstöße durchaus mandatsrelevant gewesen sein könnten. Aber auch bei der Bundestagswahl müssen wir genau bewerten, was in Berlin passiert ist. Ich glaube nicht an Einzelfälle, die keine Auswirkungen hatten. Immerhin geht es hier um fast 2,5 Millionen Wahlberechtigte. Zum Vergleich: im Saarland waren rund 750.000 Menschen zur Wahl aufgerufen.”
Haben sich Wähler aufgrund der Prognosen noch umentschieden?
Vielerorts verlief die Wahl so schleppend, dass Wahllokale länger geöffnet blieben, obwohl erst Prognosen und Hochrechnungen bekannt wurden. Bedenklich sei, dass Berliner noch bis kurz vor 20 Uhr ihre Stimme hätten abgeben können. Sensburg: „Um 18 Uhr gab es die ersten Prognosen, da konnten sich die Grünen in Berlin noch als Wahlsieger betrachten. Ist es also denkbar, dass sich Wählerinnen und Wähler in Kenntnis der Prognosen in der Schlange vor dem Wahllokal noch umentschieden haben? Beispielsweise zugunsten der SPD?” Es sei nach wie vor völlig unklar, ob nun „ein paar tausend oder gar Zehntausende erst nach 18 Uhr ihre Stimme abgegeben” hätten. Und auch, ob sich nicht noch Wähler nach 18 Uhr in die Schlange gestellt hätten - was nicht zulässig wäre. Sensburg hofft hier auch auf aussagekräftige Angaben der OSZE-Wahlbeobachter, deren Abschlussbericht noch aussteht.
Die Wahlpannen in Berlin, so Sensburg, „könnte auch speziell die Linkspartei betroffen haben” - sie hatte bundesweit mit 4,9 Prozent knapp die 5-Prozent-Hürde verfehlt, darf aber aufgrund des Gewinns dreier Direktmandate eine Fraktion im Bundestag bilden.
Sensburg: „Wir sollten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen”
Die Frage einer möglichen Wahlwiederholung zumindest der Abgeordnetenhauswahlen müsse „jenseits von parteipolitischen Erwägungen” beantwortet werden, so der CDU-Politiker. Sensburg weiter: „Wir sollten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Menschen müssen ihr Wahlrecht nach den vorgegebenen Regeln auch wahrnehmen dürfen. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Berlin muss die Wahl wiederholen und zwar rechtmäßig.” Dies könne auch bundesweit eine Lehre sein, künftige Wahlen besser vorzubereiten. Dass es wegen der Pandemie zu längeren Wartezeiten kommen würde, sei vorhersehbar gewesen.
Zudem gab es neben den Bundestags-, Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen auch noch einen Bürgerentscheid. Zugleich fand der Berlin-Marathon statt, behinderte womöglich Menschen bei der Ausübung ihres Wahlrechtes. Deshalb funktionierte auch die Nachlieferung von Wahlzetteln nur schleppend, Fahrradkuriere mussten sich den Weg über die Marathon-Strecke bahnen.
Bundesregierung hat Untersuchung gefordert

Nach den Fehlern und Pannen am Wahlsonntag in Berlin hatte die Bundesregierung eine gründliche Untersuchung gefordert. „Es ist die Verantwortung der zuständigen Berliner Stellen und Verantwortlichen, das, was geschehen ist, ganz klar aufzuarbeiten”, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert Anfang Oktober.
Wie der „Spiegel” berichtete, soll es vor dem Wahlsonntag eine Warnung von Bundeswahlleiter Georg Thiel gegeben haben. Ihm sei ein Schlupfloch für möglichen Betrug aufgefallen. Bei der Wahl zu den Bezirksparlamenten durften auch Jugendliche ab 16 Jahren und EU-Ausländer abstimmen. Bei der Briefwahl sollten alle Stimmzettel in einen Umschlag. Thiel habe darauf hingewiesen, dass Menschen, die nur bei den Bezirkswahlen zugelassen seien, unerkannt auch Zettel zur Bundestagswahl einreichen könnten. Daraufhin habe die Landeswahlleiterin hektisch die Auszählungsweise bei Briefwählern ändern müssen, schrieb das Magazin.
90-Jähriger stellte sich drei Mal vergeblich an
Besonders aber hielten wohl die langen Schlangen einige ältere Berliner vom Wählen ab, so berichtete ein 90-Jähriger, er habe sich drei mal in Schlangen eingereiht. Das erste mal habe das Wahllokal wegen fehlender Stimmzettel noch geschlossen gehabt. Das zweite Mal dauerte es dem betagten Mann zu lange, Wählerinnen und Wähler standen auf einer Länge von etwa 200 Metern an. Beim dritten Mal habe er sich um 18.05 Uhr angestellt, sei aber weggeschickt worden.
Die Stadt-Regierung zeigte sich zuletzt gelassen. Trotz zahlreicher Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen am 26. September in Berlin seien aus Sicht von Innensenator Andreas Geisel (SPD) keine flächendeckenden Neuwahlen nötig. „Nach jetzigem Stand gehe ich nicht davon aus, dass die Wahl in Berlin großflächig wiederholt werden müsste”, sagte Geisel am 8. Oktober.