Winzige Häuser kommen groß raus

Wohnen: Wie man das Beste aus 40 Quadratmetern Wohnfläche herausholt - Zu Besuch bei einem Tiny-House-Modellprojekt in Neckarsulm

Wer einen Blick in ein Mikrohaus werfen will, kann dies bei Tiny Systems in Neckarsulm tun. Fotos: Andrea Eisenmann/privat

Ein Vorrat an Glasreiniger und Putzmitteln? An manchen Tagen dürfte ein solcher Lilian Kilian durchaus gelegen kommen. Seit sieben Monaten wohnt die 57-Jährige in einem der beiden „Minihäuser“, die in Neckarsulm als Modellprojekt seit Ende 2024 auf dem Grundstück eines ehemaligen Spielplatzes im Wohngebiet Neuberg stehen. Immer wieder findet sie Abdrücke von Nasen und Fingern an ihren Scheiben vor. Groẞ stören tut sie das offensichtlich nicht. Sie lacht. „Die Leute wollen halt wissen, wie es aussieht, wenn man auf 40 Quadratmetern lebt.“

Bis vor wenigen Monaten wohnte Lilian Kilian auch noch „anders“. Auf mehr Fläche, mit mehr Möbeln, in einem großen Haus in Heilbronn-Böckingen. „Normalerweise werden die Kinder flügge und verlassen das Nest. Bei uns war es genau umgekehrt.“ Die Mutter zog aus, die Söhne blieben. Mit dem Thema Tiny House hat sich Lilian Kilian da schon seit längerer Zeit beschäftigt, Messen besucht, Anbieter sowie Preise verglichen und auch schon auf kleinstem Raum Probe gewohnt.

Als sie von dem geplanten Modellprojekt in Neckarsulm hört, reichte sie ihre Bewerbung ein. Mit Erfolg. Dannging die „Arbeit“ erst richtig los. Ein Baugesuch musste gestellt werden, das den Vorschriften entspricht, das Haus nach den eigenen Vorstellungen kreiert werden. „Für mich war zum Beispiel wichtig, dass alles barrierefrei ist“, sagt sie. So ist die Dusche begehbar, die Türen ins Bad wurden breiter geplant. Die Wände der Toilette wurden so verstärkt, dass dort später Haltegriffe angebracht werden können. „Ich will ja auch noch im Alter hier wohnen können.“

„Man muss sich Zeit nehmen, überlegen, was einem wichtig ist.“
Lilian Kilian

Einer „Fortsetzung“ des Projekts Tiny Houses scheint man im Rathaus nicht abgeneigt zu sein. „Die Stadt ist auf der Suche nach weiteren geeigneten Grundstücken im Gebiet Neuberg und in den Ortsteilen“, teilt Andreas Bracht mit. Ziel sei, Eigentümer von brachliegenden, baureifen Baulücken dazu zu bewegen, ihre Grundstücke für Tiny Houses als temporären Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Auch mögliche Standorte dafür hat man bereits im Blick. „Die ungenutzten Baugrundstücke speziell im Wohngebiet Neuberg bieten ein beträchtliches Potenzial. Die nicht genutzte Baufläche beträgt hier insgesamt rund 3,5 Hektar“, rechnet der Sprecher der Stadt Neckarsulm vor.

Der Anbieter Fatih Bincan hat sich auf das Angebot und den Vertrieb kleiner Häuser und Mobilheime spezialisiert. Tiny Systems heißt seine Firma, die ihren Sitz in Neckarsulm-Dahenfeld hat. Zwischen 40 bis 60 Quadratmeter groß sind die Mikrohäuser, die er und sein Team anbieten. „Der Großteil unserer Kunden hat die 50 beziehungsweise 60 Jahre schon überschritten“, berichtet er. In diesem Alter sei das Treppensteigen beschwerlich, das Putzen des großen Hauses lästig geworden. „Viele Menschen möchten sich verkleinern und schätzen die Vorteile eines überschaubaren, behindertengerechten, und leicht zu pflegenden Zuhauses“, betont Fatih Bincan.

Um sich diesen Traum zu verwirklichen, nehmen Interessenten offenbar auch eine längere Anreise in Kauf. An diesem Tag hat sich in Dahenfeld ein Ehepaar aus Mecklenburg-Vorpommern zum Beratungsgespräch angekündigt. „Neulich hatten wir Interessenten aus Berlin und Leipzig bei uns“, sagt Bincan.

Und auch in die Schweiz hätte das Unternehmen aus Neckarsulm jüngst ein Mikro Haus verkauft. „Die meisten Kunden kommen aber aus einem Einzugsgebiet von etwa250 Kilometern zu uns nach Neckarsulm.“

Die Kunden Auf dem Unternehmensgelände können Besucher dann unterschiedliche Modelle von Modulhäusern besichtigen. „Beim Betreten gibt es häufig einen Wow-Effekt“, berichtet Fatih Bincan von den Reaktionen. Vor allem die Aussage: „Das habe ich mir so nicht vorgestellt, das sah auf den Fotos ganz anders aus“, bekommt er oft zu hören. Wer sich für ein bestimmtes Modell entscheidet, legt mit Hilfe des Konfigurators Größe, Grundriss, Ausstattung, Farb- und Materialauswahl fest. All das wird später Grundlage für den Bauantrag, für den oft noch ein Architekt hinzugezogen wird. „Erst wenn dieser positiv beschieden ist, bestellen wir das Haus so, wie es der Kunde möchte. Nicht vorher.“

„Beim Betreten der Häuser gibt es häufig einen Wow-Effekt.“
Fatih Bincan

Der Firmenchef hat in den letzten Jahren einige Veränderungen festgestellt. Das Interesse von Kundenseite her sei deutlich gestiegen, sagt er. Aber auch Gemeinden seien offener gegenüber der Aufstellung kleiner Fertighäuser geworden. „Es entstehen immer mehr Tiny House-Siedlungen.“ Das gestiegene Interesse spiegelt sich offenbar auch in den Lieferzeiten wider: Betrug diese für das Traumhaus in Mini laut Bincan vor einem Jahr etwa vier Monate, müssen die Käufer sich mittlerweile auf ein halbes Jahr einstellen.

Die Bewohnerin Lilian Kilian hat den Schritt in ein kleineres Leben“ an keinem Tag bereut. „Ich finde es entspannend und fühle mich hier sehr wohl.“ Sie überlegt kurz. Schmunzelt „Das Wort muggelig trifft es sehr gut“, sagt sie dann. Und das schließe nicht aus, dass der eine oder andere Gast mal auf dem Boden Platz nimmt, der praktische Klapptisch erweitert oder etwas im Haus umgestellt werden muss. Sie lacht.„Wenn ich eine große Party schmeißen will, würde ich diese allerdings wahrscheinlich in den Sommer verlegen, wenn man raus kann.“

Definition

Eine einheitliche Definition, ab wann die Bezeichnung „Tiny House“, zu Deutsch:„winziges Haus“, auf ein Gebäude zutrifft, gibt es nicht. In der Regel sind mit dem Begriff jedoch Häuser mit einer Wohnfläche von 20 bis 50 Quadratmeter gemeint. Die ersten Mini-Gebäude entstanden im Amerika der 1930er-Jahre. In Deutschland gibt es aktuell noch keine bundesweit einheitlichen Gesetze zu Tiny Houses. Allerdings müssen Minihäuser den örtlichen Bauvorschriften entsprechen. Für mobile Tiny Houses gelten die Vorschriften für Fahrzeuge und Anhänger.