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Rollender Wertekompass, rollendes Vorbild: Ortwin Czarnowski ist 85

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Radsportler Ortwin Czarnowski feiert seinen 85. Geburtstag mit Familie und Weggefährten. Florian Lipowitz begeistert den Leingartener bei der Tour de France.

Wenn es sich der Jubilar so wünscht: Ortwin Czarnowski bedankt sich auf der Feier zum 85. Geburtstag bei der Heilbronner Stimme, vertreten durch Lars Müller-Appenzeller, für „das jahrelange Unterstützen meiner Sache, des Radsports“.
Wenn es sich der Jubilar so wünscht: Ortwin Czarnowski bedankt sich auf der Feier zum 85. Geburtstag bei der Heilbronner Stimme, vertreten durch Lars Müller-Appenzeller, für „das jahrelange Unterstützen meiner Sache, des Radsports“.  Foto: Berger, Mario

Viele seiner etwa 40 Gäste sind am Montagmittag mit dem Fahrrad auf den Heilbronner Marktplatz gekommen, um bei Geiger So isst Heilbronn gegenüber dem Rathaus mit ihm zu feiern. Nicht allen seiner Wegbegleiter ist das noch möglich, dem Jubilar nach wie vor: Ortwin Czarnowski ist mit seinen nun 85 Jahren fit wie ein Turnschuh, eine lebende Radsportlegende mit klarem Kopf, kritischer Stimme und großem Herzen.

Statt Geschenke sammelte der Leingartener mit seinem ganz besonderen blauen Rucksack Geldspenden für die Kinderklinik Heilbronn und die Kinderkardiologie Kiel und beschenkt wiederum ihm besonders wichtige Gäste mit einem Olivenbaum: „Der Ölbaumzweig bedeutet Frieden bei den Christen und Juden.“ Der ehemalige Fernmeldetechniker und Lehrer tut nichts unüberlegt, hat immer den Blick aufs große Ganze.

Ortwin Czarnowski sorgte für goldene Momente, bekam goldene Kränze 

Ortwin Czarnowski, geboren in Tempelberg, östlich von Berlin, erlebte Ende des Zweiten Weltkrieges düstere Momente, sorgte für glanzvolle Geschichten. Er hat goldene Kränze mitgebracht: Württembergischer Meister 1963 auf der Straße, Sieger der Deutschlandfahrt 1965, Sieger der internationalen Rheinland-Pfalz-Rundfahrt 1966. Tour de France?

„Ich habe es abgelehnt Profi zu werden. Weil ich wusste, was dann losgeht.“

Ortwin Czarnowski

„Ich habe es abgelehnt Profi zu werden“, sagt der Unterländer Sportler des Jahres 1965 und 1968. „Weil ich wusste, was dann losgeht.“ Doping, natürlich. „Das wollte ich nicht. Es haben nicht alle gemacht“, sagt er. „Aber wenn ich mich so umschaue: Wo sind die Doper heute?“ Auf der Strecke geblieben.

Er steht für Werte und hat jahrelang Werte vermittelt

Ortwin Czarnowski steht für Werte, hat als Lehrer für Technik und natürlich Sport jahrelang Werte vermittelt, organisierte erstmals 2004 das legendäre rollende Klassenzimmer, das auch nach seinem Ausstieg nicht an Schwung verloren hat – es geht dabei nach wie vor um Geschichte, Geografie, Umweltbewussts-Teilnehmer aus dem Unterland ist und bleibt ein rollender Wertekompass, ein rollendes Vorbild.

„Ich kann nichts wegschmeißen – das ist ein Problem.“

Ortwin Czarnowski

Jeden Tag ist er mit dem Rad auf dem Heuchelberg oberhalb von Leingarten: „Ein Tag ohne ist ein verlorener Tag“, sagt Ortwin Czarnowski im Kreise seiner Frau Sigrid, seiner Töchter Katja und Andrea sowie seiner vier Enkel. Einem seiner Enkelsöhne passt einer der Anzüge, die der Sportler bei den Spielen 1968 in Mexiko trug – die auch dem Opa wie gehabt tadellos passen. „Ich kann nichts wegschmeißen – das ist ein Problem“, sagt Czarnowski.

Erinnerungen an 280-Kilometer-Etappe direkt nach der Wende

Es ist wichtig, manche Dinge zu behalten. Wie alte Freunde und gute Geschichten. Nur eine davon: Ein 88-jähriger Wegbegleiter erzählt von der gemeinsamen Radtour direkt nach der Wende nach Frankfurt an der Oder: „Ich war immer der Stimmungsmacher mit der Mundharmonika. Aber auf einer 280-Kilometer-Etappe konnte ich auch nichts mehr machen.“ Ortwin Czarnowski erklärt mit Ausrufezeichen: „Die vielen Baustellen und Umleitungen! Kein Navi! Kein Handy!“

Natürlich sitzt der Olympia-Achte mit dem deutschen Straßenvierer in diesen Tagen vor dem Fernseher, verfolgt auf diese Weise die Tour de France. „Ganz jung, ganz toll, eine echte Überraschung“, sagt er über den auf Gesamtplatz drei liegenden Deutschen Florian Lipowitz. „Aus dem kann was werden. Wobei: Er ist ja schon da!“

„Aus Florian Lipowitz kann was werden. Wobei: Er ist ja schon da!“

Ortwin Czarnowski

Und über seinen 85. Geburtstag sagt Ortwin Czarnowski: „Die ersten 100 Kilometer sind die schwersten – und dann geht’s weiter bergab.“ Die nächste Etappe steht am Samstag an: Drüben, am Rathaus, startet das rollende Klassenzimmer. Mit 28 Jugendlichen. Sieben Betreuern. Und einem Gastfahrer für die ersten etwa 80 Kilometer: Ortwin Czarnowski.

Der blaue Rucksack

Der betagte blaue Rucksack von Ortwin Czarnowski hat Besonderes erlebt: Den trug er, wie er erzählt, als er in Heilbronn in der Mannheimer Straße 8 wohnte und sich zu später Stunde nach der Arbeit auf die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko vorbereitete: „Ich habe ihn mit einem Sandsack gefüllt und immer wieder im Treppenhaus die fünf Stockwerke vom Keller bis unters Dach hoch und runter getragen.“ Das ständige Drücken des Lichtschalters nervte eine Nachbarin, die mit Blick auf den schweißüberströmten Sportler gesagt habe: „Man, Sie machen sich ja das Herz kaputt!“

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