Der Mann, der das rollende Klassenzimmer organisiert
Er ist Olympionike, Initiator und Motivator: Ortwin Czarnowski organisiert auch noch mit 80 Jahren das rollende Klassenzimmer, bei dem Schüler von Heilbronn nach Berlin radeln und sich dabei mit deutscher Geschichte beschäftigen.

Bewegung ist Leben - Leben ist Bewegung." Diesen Leitspruch hat Ortwin Czarnowski zu seinem Lebensmotto gemacht. Seit vielen Jahren dreht er morgens - oft noch vor Sonnenaufgang - auf dem Heuchelberg seine Runden, 90 Minuten, jeden Tag. Am 21. Juli wurde Czarnowski, der mit dem deutschen Straßenrad-Vierer 1968 an den Olympischen Spielen in Mexiko City teilnahm und Platz acht erreichte, 80 Jahre alt.
Zeit für einen Rückblick: Ortwin Czarnowski stammt aus dem brandenburgischen Tempelberg in der früheren DDR. Er hat schreckliche Dinge erlebt und lässt seine Erinnerungen wieder wach werden. Erlebnisse, die 75 Jahre zurückliegen, rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Tempelberg wurde evakuiert. Die 15-köpfige Verwandtschaft mit dem noch nicht einmal fünfjährigen Ortwin musste die Stadt auf einem Pferdewagen in einem Konvoi verlassen. Das Kind erlebt einen Tieffliegerangriff der Alliierten, sieht den ersten Toten, einen siebenjährigen Jungen im Wagen vor dem seiner Familie, sieht tote Soldaten um eine gesprengte Brücke, schwimmende Leichen in der Elbe. Und dann stirbt plötzlich einer von fünf Jungs, als eine Handgranate explodiert. "Siegfried stand vor mir und hat alle Splitter abgefangen", erzählt Czarnowski 75 Jahre später mit ernster Miene und glasigen Augen in seinem Wintergarten in Leingarten. "Das hätte auch anders ausgehen können."
Das harte Training hat ihn geprägt
Als 19-Jähriger floh er mit seiner Mutter und seinem Bruder 1960 in den Westen - sein Vater war im Weltkrieg verschollen. Ab 1962 lebte die Familie in Heilbronn, 1969 zog es Ortwin Czarnowski nach Leingarten. Zu Beginn seiner Radsportkarriere startete er für die Berliner Zugvögel, später für den RV Stuttgart und den Heilbronner Radsportverein Wanderlust. Er gewann 1966 gleich die erste Rheinland-Pfalz-Rundfahrt. Da er kein Auto hatte, fuhr er selbst zu den Rennen immer mit dem Rad. "Das war eine harte Zeit, und ich habe hart trainiert. Das hat mich geprägt."
Er hätte Profi werden können, doch das wollte er nicht. "Ohne zusätzliche Mittel wäre das nicht gegangen", sagt er klipp und klar. "Mein Weg war steinig, aber auch daraus kann man etwas machen." Stattdessen beendete er mit 28 Jahren seine sportliche Karriere zugunsten des Berufs. Zunächst war er Fernmeldetechniker bei der Post in Heilbronn. Dann kündigte er, machte eine Sportlehrerausbildung in Karlsruhe und arbeitete als Lehrer für Sport und Technik in Leingarten, Schwaigern und Heilbronn. Ortwin Czarnowski initiierte die Umwelt- und Verkehrs-Olympiade der Schüler auf der Waldheide.
2020 soll das rollende Klassenzimmer eine "Tour der Dankbarkeit" werden
Dem Radsport blieb er treu, gründete 1970 mit einigen Mitstreitern den RSC Heilbronn, der sich anschließend nach der Fusion mit dem RV Wanderlust zur RSG Heilbronn umbenannte. Czarnowski war auch Mitgründer der Radsportabteilung des SV Leingarten und Initiator und viele Jahre Organisator der Fernfahrten, die es bis heute gibt. Seine letzte bestritt er vor fünf Jahren anlässlich der 40-jährigen Partnerschaft ins 650 Kilometer entfernte Lésigny bei Paris.
Vor 16 Jahren erweckte er "das rollende Klassenzimmer" zum Leben: Eine jährliche Schüler-Radtour über 750 Kilometer nach Berlin. Geschichte wird für die Schüler an vielen Plätzen und Orten dieser Etappen erlebbar. Sport und der Umweltgedanke sind ihm dabei ebenfalls wichtig. Auch in diesem Jahr lässt Ortwin Czarnowski das Klassenzimmer wieder rollen. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Es soll eine "Tour der Dankbarkeit" werden.
Zur Person
Ortwin Czarnowski wurde am 21. Juli 1940 in Tempelberg geboren. Er floh mit Mutter und Bruder 1960 in den Westen und landete im Auffanglager in Weinsberg. Seit 1969 ist er mit seiner Frau Sigrid verheiratet. Das Paar hat zwei Töchter. 1965 und 1969 wurde er Unterländer Sportler des Jahres. 2001 erhielt er die Ehrennadel des Landes Baden-Württemberg. 2007 überstand er eine Krebserkrankung mit anschließender Lungenembolie. Am 6. Januar 2020 brach er sich bei einem Sturz vom Rad auf eisglatter Strecke das Schlüsselbein und zwei Rippen.


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