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Viele Lügen, aber nur eine Wahrheit: "Der große Wind der Zeit" am Schauspiel Stuttgart ist das Stück zum Nahostkonflikt

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Stephan Kimmig inszeniert Joshua Sobols "Der große Wind der Zeit", vermeidet Aktualisierungen - und doch sitzen der 7. Oktober und seine Folgen dem Zuschauer im Schauspielhaus Stuttgart im Nacken.

"Alles ist möglich. Alles ist unmöglich": Libby (Camille Dombrowsky, oben) begegnet ihrer Urgroßmutter Eva (Paula Skorupa).
"Alles ist möglich. Alles ist unmöglich": Libby (Camille Dombrowsky, oben) begegnet ihrer Urgroßmutter Eva (Paula Skorupa).  Foto: Katrin Ribbe

Auch wenn die generationenübergreifende israelisch-palästinensische Familiengeschichte 2021 endet und die Bühnenfassung lange vor dem Terrorangriff der Hamas vergangenen Oktober auf dem Spielplan stand: "Der große Wind der Zeit" von Joshua Sobol ist das Stück zum Nahostkonflikt.

In der Regie von Stephan Kimmig widersteht die Adaption von Sobols 2021 auf Deutsch erschienenen Roman der Versuchung einer Aktualisierung angesichts des Krieges in Gaza: Doch der 7. Oktober sitzt dem Zuschauer im Nacken bei der Uraufführung im Stuttgarter Schauspielhaus und wird aufgeladen mit jedem Wort auf der Bühne wie unterm Brennglas.

Versöhnung scheint auf lange Zeit utopisch

Es gibt ein Davor und Danach, Joshua Sobols Appell, aufeinander zuzugehen, scheint auf lange Zeit utopisch. Sobol, einer der international erfolgreichen Autoren Israels, kam am Samstag unter langanhaltendem Schlussapplaus mit auf die Bühne. Ein freundlicher Herr, dessen "Alles ist möglich. Alles ist unmöglich" im Stück an diesem Abend formelhaft beschworen wird. Und in seiner schlichten Banalität betroffen macht.

Sobols Geschichtsstunde über den mehr als 100 Jahre alten Konflikt ist komplex und die Botschaft klar: Die Kommunikation mit der anderen Seite darf nicht abreißen. Wenn Regisseur Kimmig nach zweieinhalb Stunden mit Pause die Schauspieler an den Bühnenrand treten und in Richtung Parkett die Hände ausstrecken lässt, ist das pathetisch, aber vielleicht auch das einzig seriöse Angebot. Erzählt wird überwiegend aus der Perspektive zweier Frauen: Libby, Verhörspezialistin der israelischen Armee, und ihre Urgroßmutter Eva, eine starke, lebenslustige Person, die Anfang der 30er Jahre Mann und Kind verlässt, in Berlin Ausdruckstanz studiert, den aufkommenden Nationalsozialismus erlebt und über Wien zurückkehrt nach Israel.

Unter Dauerstrom und traumatsiert

Libby, 24 Jahre jung, hat den Kreislauf aus "Haft, Hauszerstörung, Untersuchungshaft, Verhör, Prozess, Hauszerstörung" satt. "Mir reicht es." Ihren Entschluss, beim Militär zu kündigen, fasst sie nach ihrem letzten Verhör. Der junge Palästinenser Adib, der in London über die Geschichte des Zionismus promoviert, hat ihr nicht nur ein Papierkügelchen mit seiner Telefonnummer ins Haar gesteckt, sondern sie damit konfrontiert, dass Libbys Großvater seine Großmutter 1949 aus ihrem Land vertrieben habe. Während Felix Strobel Adib als nervös lächelnden, linkischen Intellektuellen gibt, steht die Libby von Camille Dombrowsky unter Dauerstrom, traumatisiert, autoaggressiv. Ständig greift sie sich durch die blonde Mähne, was die Figur mit der Zeit eindimensional macht.

Libby will ihren Großvater Dave im Kibbuz besuchen, der aber hat mit seinem Motorrad das Weite gesucht, Sebastian Röhrle verleiht Dave den lakonischen Charme eines Altrockers. Libby findet das Tagebuch von Eva, Daves Mutter, und liest sich in die Familiengeschichte ein. "Libby ist ich" hat Eva in ihr Tagebuch geschrieben, die beiden Frauen begegnen sich auf verschiedenen Ebenen, multiperspektivisch werden die frühen Jahre der Kibbuzbewegung verhandelt, Evas wilde Jahre in Berlin, ihr politischer Kampf um den Aufbau des jungen Staates Israel nach 1949 und kurzgeschlossen mit der Identitätssuche von Israelis und Palästinensern heute.

Verliebte Jungs wie begossene Pudel

Paula Skorupas Eva ist die dominante Figur in Kimmigs Inszenierung, lautstark, auch ironisch in durchaus komischen Nuancen. Etwa, wenn sie den drei Männern im Kibbuz eröffnet, dass sie schwanger sei, aber nicht wisse, von wem, und ihre verliebten Jungs wie begossene Pudel Eva alles Gute wünschen für Berlin. Erzählebenen und erzählte Zeit wechseln fließend, dazu dreht sich eine Art Wachturm aus Sichtbeton (Bühne: Katja Haß). Mal wirken die drei Etagen wie ein Bungalow, mal ist es der Kibbuz, dann militärisches Sperrgebiet. In der zweiten Etage steht der Musiker Max Braun und mischt den Soundtrack aus Geräuschen, Elektropop und mehr wie dem Alabama Song aus der Brecht-Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny".

Die Episoden verdichten sich, zeigen auf, dass Liebe über Gräben Wege sucht, es viele individuelle Lügen, aber nur eine Wahrheit gibt. Apropos Brecht, den lernt Eva in Berlin kennen, nennt ihn kurz LJ - Lederjackett - und entlarvt ihn unerschrocken als bourgeoisen Macho, was sie nicht daran hindert, drei Tage später mit ihm zu schlafen.

Hinterfragen, was als gegeben gilt

Was bleibt? Vielleicht, dass sich tatsächlich der Wunsch erfüllt, den Joshua Sobol im Programmheft äußert: "Dass das Publikum nach der Vorstellung die Lust verspürt, das zu hinterfragen, was es für gegeben hält, und Spaß daran hat, bequeme Narrative auszuhöhlen."

Joshua Sobol, 1939 in Tel Mond, Palästina, geboren, engagierte sich in der jüdischen sozialistischen Jugendbewegung Haschomer Hatzair und lebte von 1957 bis 1965 im Kibbuz. Sobol studierte Literatur und Geschichte in Israel, Philosophie in Paris und Konzeptionsanalyse an der École nationale d"informatique. 1988 kam es nach der Uraufführung seines Stückes "Das Jerusalem Syndrom" zu Protesten in ganz Israel. Sobols internationale Karriere als Dramatiker begann 1983 mit "The Soul of a Jew" ("Weiningers Nacht"). "Ghetto" (1984) wurde ein Welterfolg, Peter Zadek inszenierte das Stück im selben Jahr an der Berliner Volksbühne. 1985 wurde "Ghetto" als Musical am Heilbronner Theater aufgeführt. Joshua Sobol lebt in Tel Aviv. Weitere Vorstellungen unter www.schauspiel-stuttgart.de

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