Lesung auf dem Theaterschiff Heilbronn: Wenn das Wort Juden ein Verb wäre
Eine Solidaritätslesung junger deutsch-jüdischer Autoren auf dem Theaterschiff fragt nach jüdischem Leben heute in Deutschland und den Folgen des Hamas-Terrors vom 7. Oktober.

Wie ist es, das jüdische Leben in Deutschland? "Es ist vor allem dies: unwahrscheinlich", so Alexander Estis in einer seiner Kolumnen, die der Autor für verschiedene Feuilletons großer deutschsprachiger Zeitungen schreibt. "Eine unwahrscheinliche Existenz" ist denn auch der Titel einer Lesung mit Stimmen junger, deutsch-jüdischer Literatur - nach dem 7. Oktober 2023.
Um dem Entsetzen nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel Ausdruck zu verleihen, sofern das möglich ist, haben Estis und Slata Roschal, Romanautorin und Lyrikerin, diese Lesereihe initiiert, die sie quer durch Deutschland geführt hat, gemeinsam mit weiteren deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren in unterschiedlicher Besetzung. Nach Hannover, Hamburg, Frankfurt, München und am Deutschen Theater Berlin ist Heilbronn am Samstagabend die sechste und vorläufig letzte Station.
Initiiert von Heilbronns ehemaligem Stadtschreiber Alexander Estis und Slata Roschal
In Kooperation mit dem Theaterschiff und auf demselben lesen neben Estis und Roschal der Schriftsteller und Philosoph Alexander Graeff und die Sprecherin und Schauspielerin Leni Karrer aus veröffentlichen und noch nicht veröffentlichten Werken. Für Estis, den ehemaligen Heilbronner Stadtschreiber, ist es eine Art Heimspiel, auch wenn er in der Schweiz lebt. Die anderen sind aus Berlin und München angereist.
Die Erlöse des Abends gehen an den Freundschaftsverband The Parents Circle, der sowohl aus palästinensischen als auch israelischen Angehörigen besteht, die im Nahostkonflikt Angehörige verloren haben - und sich für ein Ende des Blutvergießens einsetzen.
Sicherheitsbeamte auf dem Theaterschiff: ein trauriges Zeichen
Dass Oberbürgermeister Harry Mergel ein Grußwort spricht und daran erinnert, dass sich die Stadt Heilbronn nach der Erfahrung von Leid und Zerstörung heute gegen jegliche Form von Ausgrenzung engagiert, registrieren die Veranstalter mit Hoffnung auf eine finanzielle Unterstützung. Ob der deutschsprachigen Literatur eine besondere Rolle zufällt? Auf keinen Fall kann sie sich vor den Schrecken des 7. Oktobers verschließen, den Folgen des Krieges in Nahost, dem wachsenden Antisemitismus. Wie in anderen Städten auch sind Sicherheitsbeamte auf dem Theaterschiff - ein trauriges Zeichen dafür, dass jüdische Mitmenschen wieder Angst haben müssen. Nicht schweigen, sondern sichtbar machen, was jüdisches Leben heute in Deutschland sein kann, das möchte der Abend.
In unterschiedlichen Textsorten gehen diese jungen Stimmen auf Aspekte jüdischer Lebensrealität in Deutschland ein, auf Familiengeschichten, das unmittelbare Grauen in Nahost und der Ukraine. Mal ironisch, mal traurig, bitter, voll Nachdenklicheit, aber auch voll Lebenslust und Chuzpe. Aber nie vorwurfsvoll. Hier sitzt eine erfrischend selbstbewusste Generation, die wohl registriert, wie sich das Leben seit dem 7. Oktober verändert.
"Wir sind nicht stellvertretend für die Juden in Deutschland"
"Wir sind weder Politiker noch Experten im Nahostkonflikt noch stellvertretend für die Juden in Deutschland. Wir sind Autoren", sagt Slata Roschal. "Querbeet" liest sie aus dem jüngsten Roman "Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten", aus "Wir verzichten auf das gelobte Land", dann das Gedicht eines unveröffentlichten Bandes mit dem anspielungsreichen Arbeitstitel "Ich schreite en passant und tue deutsch".
Der Großvater väterlicherseits, so erzählt Alexander Graeff in dem Romanmanuskript "Hund", nannte ihn als Kind "nervösen Jud", ohne dass der Junge wusste, was das heißt. Die Geschichte einer Kindheit in der Provinz in den späten 70er und 80er Jahren, geprägt von der Binarität Mann/Frau. Die Großeltern mütterlicherseits gehörten nicht wirklich zur Familie, für die väterliche Linie waren sie "von anderem Schlag", hatte die Oma sich doch getraut, seinen jüdischen Opa zu heiraten.
Wider das postkoloniale, linke Geschwurbel
Iryna Fingerova ist Ärztin, Journalistin und Schriftstellerin aus Odessa und lebt derzeit in Dresden. Aus "Scham und Stolz" Jüdin zu sein liest stellvertretend Leni Karrer. Ein dichter Text über doppelte Standards, postkoloniales, linkes Geschwurbel, die Allgegenwart antisemitischer Witze, aber auch, warum Fingerova den Allgemeinplatz, der 7. Oktober sei das Schlimmste, das Juden nach dem Holocaust widerfahren sei, vermeiden möchte.
Eine unwahrscheinliche Existenz? Alexander Estis hat zu Beginn in einer seiner literarischen Miniaturen mit der Vorstellung gespielt, das Wort Juden sei ein Verb. Was hieße juden dann: trotzdem leben, überleben, nicht überleben? Die jüdische Existenz, sagt Estis lapidar, ist "eine Existenz dazwischen".
Deutsch-jüdische Literatur: Nun ist Heilbronn nicht Berlin, Hamburg, Hannover, München oder Frankfurt. Etwas mehr Interesse hatten sich Veranstalter und Autoren der Benefizlesung "Eine unwahrscheinliche Existenz" auf dem Theaterschiff aber erhofft. Umso größer fällt der Zuspruch der rund 60 Besucher aus für das Anliegen und die Texte. Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, 1996 als Kontingentflüchtling nach Deutschland ausgewandert, ist Autor und Kolumnist, war Heilbronner Stadtschreiber und lebt in der Schweiz. Slata Roschal, 1992 in Sankt Petersburg geboren, zog als Kind als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Heute lebt die Schriftstellerin in München. Leni Karrer, Jahrgang 1997, ist als Schauspielerin und Sprecherin auf Kleinkunstbühnen zu sehen. Alexander Graeff, Jahrgang 1976, lebt als Autor, Dozent, Kurator und Literaturvermittler in Berlin und Greifswald.