Autorin Lena Gorelik im Gespräch mit Landtagspräsidentin Muhterem Aras
"Wer wir sind": Lena Gorelik und Muhterem Aras diskutieren im Kaffeehaus Hagen in Heilbronn über Heimat(en), Zuhause, Sprache als Identität, die reale Gefahr von rechts und die Notwendigkeit, die Demokratie zu schützen.

Der 7. Oktober hat viel an die Oberfläche gefördert, aber nichts ist neu", sagt Lena Gorelik. Auch, dass Antisemitismus ein virulentes Thema ist, "aber auch Rassismus und Islamfeindlichkeit". Vier Monate nach dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Beginn des Krieges in Nahost ist die Autorin und Journalistin zu einer Gesprächsrunde und Lesung in Heilbronn. Eine vom Landtag Baden-Württemberg initiierte Veranstaltung im Kaffeehaus Hagen, zu der Landtagspräsidentin Muhterem Aras eingeladen hat.
"Wer wir sind", so der Titel von Goreliks autobiografischem Roman, ist auch das Motto des Abends, der im Juni 2023 in gleicher Besetzung im Landtag in Stuttgart schon einmal stattgefunden hat. Beflügelt von den Reaktionen auf ihre Gesprächsrunde, haben Gorelik, Aras und Moderatorin Nicole Köster entschieden, mit dem Thema auf Reisen zu gehen. Was ist Heimat? Wo bin ich zu Hause? Welche Rolle spielt Sprache für meine Identität? Erste Station am Mittwoch ist Heilbronn.
Die Zuhörer sitzen dicht an dicht
Mit dabei ist das Musikertrio Rahî mit den Geschwistern Rager und Hizir und Produzent Sahin. "Sollte noch jemand etwas Negatives über Heilbronn sagen, bekommt er es mit mir zu tun", begrüßt eine resolute Muhterem Aras. Hell begeistert ist sie von dem Raum im Kaffeehaus, der ihnen kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Das Thema "Wer wir sind" ist relevanter denn je, das Interesse groß, die Zuhörer sitzen dicht gedrängt. Immer wieder tritt Moderatorin Köster vom Podium und fragt im Zuschauerraum nach individuellen Erfahrungen mit Sprache und Vorstellungen von Heimat.
"Sprache schafft Zugang", sagt Lena Gorelik, 1981 wurde sie in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg in eine russisch-jüdische Familie geboren. Und: "Heimat wird schnell regional gedacht." Gorelik denkt Heimat lieber "mehrdimensional" statt im Singular. 1992 kamen sie und ihre Familie als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus Russland und lebten zunächst achtzehn Monate in der Baracke einer Flüchtlingsunterkunft in Ludwigsburg. Aufgewachsen in Stuttgart, wo sie zur Schule ging, wohnt Gorelik heute in München. Eine renommierte Autorin, der eben erst der Heinrich-Mann-Preis zuerkannt wurde und die unverstellt und konzentriert, die Dinge beim Namen nennt. Dass man schon lange nicht mehr von Rechtsruck sprechen kann, sondern von einer Bewegung. Und dass sie gegen die Polarisierung anschreibt, die unsere Gesellschaft vergiftet. Auch mit Blick auf den Krieg in Gaza, "Opfer gibt es auf beiden Seiten".
Der Begriff Heimat, der gerade wieder missbraucht wird
Was Literatur leisten kann? "Den Finger in Wunden legen und Verbindungen herstellen", sagt Lena Gorelik, die mit der Sprache der Literatur in Deutschland heimisch geworden ist. Zugehörigkeit, Geborgenheit sind ihr als Zustandsbeschreibungen näher als der Begriff Heimat. Der gerade auch wieder missbraucht wird. Ein Tag nach dem aus Judenhass gespeisten Angriff am 7. Oktober fanden in Bayern Wahlen statt, erinnert Lena Gorelik an den Erfolg der Partei von Hubert Aiwanger, der sich mit einem "antisemitischen Flugblatt entlarvt" hat, "dessen Inhalt ich nicht zitieren möchte".
Muhterem Aras, in Ostanatolien als Tochter alevitischer Kurden geboren, kommt aus einem anderen Kulturkreis, teilt aber viele Erfahrungen, die Gorelik in ihrem Roman "Wer wir sind" schildert. Mit einer Passage über den Vater und warum die Familie beschlossen hat, nach Deutschland zu kommen, beginnt Gorelik. Es war ein Sonntag im August, als der Vater in der Tram als "Drecksjude. Geh" doch nach Israel" beschimpft wurde und die Mitfahrer in sich hinein und wegsehen. Hochaktuell und beschämend erleben Aras und Gorelik Antisemitismus als "gesamtgesellschaftliche Aufgabe".
"Ambivalenzen aushalten, dazu braucht es Gelassenheit"
Verwandte Themen werden angesprochen, warum Mehrsprachigkeit nur als Potenzial gesehen wird, wenn es Englisch oder Chinesisch ist, nicht aber Hebräisch und Arabisch. Und unser Unvermögen, Demokratie zu feiern, wie es Gorelik formuliert. "Wir haben verlernt, die Demokratie zu schützen als etwas, das täglich geschieht und das angegriffen wird." Zwischen Textstellen aus ihrem Buch, die das Ankommen in der unbekannten Sprache und dem fremden Land umreißen, ermuntert Lena Gorelik, "Ambivalenzen auszuhalten" - und dass nicht alle gleich sind. "Dazu bedarf es Gelassenheit."
Zur Person
Lena Gorelik, 1981 in Leningrad geboren, emigriert 1992 mit ihrer Familie nach Deutschland, lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in Ludwigsburg und wächst in Stuttgart auf. Studium an der Deutschen Journalistenschule in München, anschließend Masterstudiengang Osteuropastudien an der Universität. Von 2006 bis 2007 studiert sie Politik an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Mit ihrem ersten Roman "Meine weißen Nächte" gelingt 2004 der literarische Durchbruch. Gorelik ist ausgezeichnet mit dem Marieluise-Fleißer-Preis 2023 und dem Heinrich-Mann-Preis 2024.