Gefahr einer "unterkomplexen Rationalität": Professorin Katja Kauer über "Corpus Delicti" von Juli Zeh
Die Kulturwissenschaftlerin Katja Kauer spricht im Interview über Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" und warum das Thema nicht nur für Abiturienten relevant ist. Online-Lecture auf Einladung des Heilbronner Literaturhauses am 31. März.

Wie eine Gesundheitsdiktatur in naher Zukunft aussehen könnte? Die Schriftstellerin Juli Zeh hat es in ihrem Roman "Corpus Delicti" geschildert, der auf der Lektüreliste für das Deutschabitur steht. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Katja Kauer, Privatdozentin an der Universität Tübingen, spricht im Rahmen der vom Literaturhaus Heilbronn initiierten Online-Lectures über die Relevanz von Zehs durchaus "sperrigen" Text. Und deutet ihn im Interview vorab aus postfeministischer Sicht.
Frau Kauer, Werke von Autorinnen als Abiturthema sind ja immer noch eine Seltenheit. Wer eigentlich trifft die Auswahl?
Katja Kauer: Da gibt es keine Instanz, die Frauen bewusst aussortiert. Der Punkt ist, dass wir in einem Werkesystem leben, das aus einer männlichen Literaturwissenschaft und Rezeption hervorgegangen ist und somit männliche Texte strukturell privilegiert sind. So wie übrigens Juli Zeh gesagt hat, dass sie in ihrer Jugend eigentlich nur Texte von Männern gelesen hat.
Mit "Corpus Delicti" steht nun ein dystopischer Text auf der Liste, der eine Gesundheitsdiktatur zeichnet in naher Zukunft. Was macht ihn relevant?
Kauer: Ich könnte es mir einfach machen, indem ich sage, das Thema ist relevant, weil wir Corona erlebt haben. Aber das glaube ich nicht.
Sondern...
Kauer: Er ist relevant, weil wir in einer Zeit leben, in der wir uns immer mehr aktiv als Subjekt - ob am Arbeitsplatz oder als jemand, der auf Partnersuche ist - durchleuchten lassen werden. Weil wir immer mehr unsere Individualität beschränken, um besser der Norm eines neoliberalen, erfolgreichen Subjekts zu entsprechen. Das sehe ich auch bei meinen Studierenden, wie Menschen, um etwa schneller Punkte zu bekommen, sich beschneiden in ihrer Leidenschaft, um besser in die Gesellschaft zu passen. Und das erzählt "Corpus Delicti".
Science-Fiction-Roman oder Gegenwartsdiagnose: Ist Juli Zehs Inszenierung bereits Realität?
Kauer: Die Autorin wollte ihren Roman bereits 2009 nicht als Science-Fiction gelesen haben, sondern als Text, der die Gegenwart spiegelt.
Zeh selbst hat während der Pandemie Parallelen gezogen zwischen dem von ihr im Roman geschilderten Überwachungsstaat und der Einschränkung der Grundrechte während Corona.
Kauer: Ich kenne Juli Zeh nicht persönlich. Als Literaturwissenschaftlerin sage ich, diese Parallelen zu ziehen, schafft einen Marketingeffekt. Die Auflagen, ohne dass ich das böse meine, wurden ja noch einmal kräftig erhöht. Wer den Roman aufmerksam liest, merkt, dass diese Parallelen eine Verkürzung sind ...
... und die Lektüre beklemmend kafkaesk ist. Wie geht denn die Juristin Juli Zeh sprachlich und literaturästhetisch vor?
Kauer: Auch wenn Zeh bekennt, dass das Jurastudium sie zu ihrer poetischen Form gebracht hat, denke ich, dieser Roman ist weniger von ihrer juristischen Diktion geprägt. Sondern davon, dass er ursprünglich ein Theaterstück war. Das wird deutlich durch diese Räume, die entstehen und die dialogische Erzählweise. Flapsig gesprochen: Der Roman hat eine leichte Uneleganz, die von der Theaterstruktur kommt. Ein Roman wie ein Kammerspiel.
Die Figur etwa des Journalisten Würmer ist stark stilisiert und wirkt hölzern. Oder bin ich da als Würmers Berufskollegin zu empfindlich?
Kauer: Die Figuren wie auch der Roman als Kammerspiel sind tatsächlich sehr zugespitzt. "Corpus Delicti" ist eine Art moderne Adaption eines Hexenprozesses.
Eines Hexenprozesses?
Kauer: "Corpus Delicti" entstand ja ursprünglich als Auftragsarbeit für die Ruhr Triennale 2007, die unter dem Motto "Mittelalter" stand. Mia Holl, die Protagonistin als Hexe, geht zurück auf die historische Figur Maria Holl, die den Anschuldigungen standhielt. Heinrich Kramer, Chefideologe des Gesundheitssystems und Mias Gegenspieler als Inquisitor, geht auf den Verfasser des "Hexenhammers" zurück. Das sind keine differenzierten Figuren, sondern Typen, wie Würmer, der wohl kein historisches Vorbild hat.
Wieviel feministisches Potenzial liegt in Juli Zehs Roman?
Kauer: In Zehs gesamtem Schaffen liegt viel feministisches Potenzial, ohne dass sie eine feministische Poetik vor sich herträgt.
Der Gesundheitswahn in "Corpus Delicti" propagiert den optimierten Körper. Das ist doch in erster Linie eine Frauenmanie.
Kauer: Diese Körperthematik würde ich als Genderforscherin nicht feministisch lesen, weil wir zwar historisch die Analogie haben von Frauen, die sich um ihren Körper, ihre Fruchtbarkeit und Gesundheit kümmern müssen. Wir leben aber mindestens seit dem neuen Jahrtausend in einer Zeit, in der die Selbstoptimierung, und zwar in jeder Hinsicht, für alle Geschlechter gilt. Was in der Aufklärung den Anfang nahm, dass sich der Mensch selbst zu verbessern habe, ist zum Diktat geworden.
Mias Bruder Moritz wird nach einer DNA-Probe zu Unrecht verurteilt. Juli Zeh lässt ihre Protagonistin sagen, sie entziehe einer Methode das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt.
Kauer: Dieser Satz gefällt mir als Philosophin besonders gut, wenn ich bedenke, wie sehr sich Neurowissenschaften durchsetzen. Neurosciences, die erforschen, wie sich Gefühle über Bindungshormone erklären lassen, die Gehirnareale visualisieren und all das in Diagrammen darstellen. Was dann logisch klingt und sachlich richtig, aber der Komplexität, der Ambivalenz etwa von Begehren nicht gerecht wird. Gegen dieses Schubladendenken wehrt sich Zeh - und das schon vor Jahren.
Und auch Sie als Lehrende ...
Kauer: ... , weil es beim Lesen eines Textes nicht die eine Wahrheit gibt zu einer Figur. Die Gefahr des Siegeszuges einer unterkomplexen Rationalität sehe ich dort, wo wir uns im Bereich des nicht genau Benennbaren befinden. Der Bereich, der das Leben erst spannend macht - und der ist schwer in Diagramme zu fassen.
Livestream: Freitag, 31. März, 18 Uhr: PD Dr. Katja Kauer (Universität Tübingen): Juli Zehs
"Corpus Delicti": Science-Fiction-Roman oder Gegenwartsdiagnose?
Livestream unter www.literaturhaus.heilbronn.de, www.ag.kbz-hn.de www.aim-akademie.org.
Zur Person: Katja Kauer assoziierte Wissenschaftlerin an der Universität Tübingen und Vertretungsprofessorin in Fribourg/Schweiz, promovierte über "Banaler und dämonischer Sex in der Literatur um 1900 und um 2000" und habilitierte sich mit dem Thema "Die Positivierung der Verzweiflung im 18. Jahrhundert". Kauers Forschungsgebiete sind Gender- und Queerstudies, Popkultur und Popfeminismus, Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie Gegenwartsliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft.
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