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Erich Kästners "Fabian" als taumelnde Show am Stuttgarter Schauspiel

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Viktor Bodó inszeniert Kästners Großstadtroman "Fabian oder der Gang vor die Hunde" als atmosphärischen Bilderbogen mit einem fabelhaften Ensemble und unaufdringlicher Dringlichkeit.

"Ich will vieles und kann nichts": Gabór Biedermann ist Fabian, ein Mann ohne wirkliche Eigenschaften und distanzierter Moralist im taumelnden Berlin am Ende der Weimarer Republik.
Foto: Thomas Aurin
"Ich will vieles und kann nichts": Gabór Biedermann ist Fabian, ein Mann ohne wirkliche Eigenschaften und distanzierter Moralist im taumelnden Berlin am Ende der Weimarer Republik. Foto: Thomas Aurin  Foto: Thomas Aurin

Lernt schwimmen, hat Erich Kästner das letzte Kapitel seines "Fabian" überschrieben. Den Appell mit Ausrufezeichen darf man heute wieder in seiner Grundsätzlichkeit verstehen, auch wenn der Held des Romans tatsächlich ertrinkt, als er einen Jungen aus dem Wasser rettet.

Im Schlussmonolog wendet sich Fabian ans Publikum: Im Wartesaal Europa wartet er auf den nächsten Krieg. "Lernt schwimmen!" blinkt in roten Lettern nach gut drei Stunden mit Pause auf dem Leuchtschriftkasten über der Bühne im Stuttgarter Schauspiel.

Victor Bodó inszeniert Kästners Großstadtroman und Sittengemälde der taumelnden Weimarer Republik als pralles Ensemblestück. Als Revue mit überzeichneten Typen, so wie bereits Kästner seinen 1931 unter dem Titel "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" erschienenen Roman als Satire angelegt hat "über den provisorischen Charakter einer Epoche", wie es irgendwann an diesem Abend heißt.

Filmisch dicht in scharfen Schnitten

In scharfen Schnitten erzählt der Regisseur filmisch dicht vom Berlin am Vorabend von Hitlers Machtergreifung. Die Bühnenfassung von Júlia Róbert und Anna Veress orientiert sich am 2013 unter dem Titel "Fabian oder der Gang vor die Hunde" neu edierten Original. 1931 wurden einige als anstößig geltende Stellen gestrichen, bevor der Roman 1933 bei der Bücherverbrennung im Feuer landete.

"Ich kann vieles und will nichts", bringt Gabór Biedermanns Fabian das Dilemma auf den Punkt. Der promovierte Germanist Fabian ist Werbetexter bei einer Zeitung, dessen Redaktionsleiter die Maxime vertritt, "was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen". Orientierungslos in einer Zeit, die aus den Fugen gerät, treibt sich Fabian durchs Nachtleben.

Ein distanzierter Beobachter

Der Mann ohne Eigenschaften und ohne Argwohn ist distanzierter Beobachter. Er verliert seinen Job, seinen besten Freund, wird von seiner Geliebten betrogen, die sich einem Filmproduzenten verkauft, um Schauspielerin zu werden. Als nächstes wird wohl die Vermieterin Fabian das Zimmer kündigen.

Bis in die Nebenfiguren macht der Ungar Viktor Bodó Kästners Kosmos lebendig in der Ästhetik einer Serie, die den toxischen Glamour der Zwischenkriegszeit illustriert als düstre Chronik einer angekündigten Katastrophe.

Stuttgarts Schauspieler stürzen durch schillernde Episoden

Weniger anarchisch als der TV-Erfolg "Babylon Berlin", weniger verrucht als Dominik Grafs Romanverfilmung und kürzer als Frank Castorfs Bühnenversion am Berliner Ensemble stolpern und stürzen Stuttgarts Schauspieler durch schillernde Miniepisoden - wie Karikaturen ihrer selbst. Einzig Biedermanns Fabian, sein Freund Labude (Felix Strobel) und Fabians einzige Liebe Cornelia (Paula Skorupa) sind realistisch gezeichnet im Stil der Neuen Sachlichkeit, jener Strömung in Literatur und Kunst, die während der Weimarer Zeit die Gesellschaft sachlich kühl abbildet.

Diese Atmosphäre findet ihre Fortsetzung in der Ausstattung. Die Bühne ist stilisierter U-Bahnhof, Eingang eines Mietsblocks, verwandelt sich in einen Club, ein Büro, die Wohnung, in der Josephine Köhler als Irene Moll Fabian fesselt und ihrem Mann präsentiert. Michael Stiller ist der resignierte Anwaltsgatte, der sich vertraglich gesichert hat, die Affären seiner Frau vorab zu begutachten.

Die Frauen scheinen das Leben am Laufen zu halten

Wo die Männer bei Kästner nicht irrlichternde Moralisten sind, sind sie skrupellose Machtmenschen ohne wirkliche Macht oder Würstchen. Und die Frauen? Treten souverän auf, seien sie noch so abgetakelt. Gabriele Hintermaier als Vermieterin und Clubbetreiberin etwa, Sylvana Krappatsch als Diseuse, die nur mit Whisky vors Mikro kann und von ihrer Schwäche für Sieger singen: Sie scheinen den Laden (vorerst) am Laufen zu halten.

Zwei, drei Mal verlässt das Ganze das eigentliche Setting und simuliert eine Unterbrechung am Filmset. Bühnenarbeiter geben Kommandos, bis es - Klappe, Fabian, Bild sieben - weitergeht. Das muss man mögen oder aushalten. Nach der Pause sitzt das Ensemble am Bühnenrand. 16 Schauspieler lassen ihre Figuren zu Wort kommen - eine fabelhafte Szene.

Spannungsvolle Perspektivenwechsel

Der Mix aus herangezoomten Momentaufnahmen, Showeinlagen, nackter Haut, Monologen, intimen Dialogen und dazwischen immer wieder Fabian, der mal über sich in der dritten Person spricht, mal direkt verhandelt, das alles provoziert spannungsvolle Perspektivenwechsel. Und ist eine Stärke dieses sehenswerten Theaterabends.


Weitere Vorstellungen

www.schauspiel-stuttgart.de

Der Regisseur: Viktor Bodó, Jahrgang 1978, studierte Schauspiel und Regie in Budapest. Sein Durchbruch als Regisseur gelang ihm am Katona József Theater in Budapest mit einer Adaption von Kafkas "Der Prozess", die weltweit zu Gastspielen eingeladen wurde. Seit 2006 arbeitet er regelmäßig im deutschsprachigen Raum. Seine Inszenierung von Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" wurde zum Berliner Theatertreffen 2010 eingeladen.

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