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Die dunkle Seite der Welt: Bildhauer Gregor Schneider in Heilbronn

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Eine etwas andere Ausstellung: Ernst-Franz-Vogelmann-Preisträger Gregor Schneider hat die Kunsthalle in Heilbronn umgebaut und erweist sich als Spezialist für rekonstruierte Räume.

In der Wohnung eines gewissen N. Schmidt: das Zockerzimmer als Streamingraum, in dem der Besucher sich selbst begegneten.
In der Wohnung eines gewissen N. Schmidt: das Zockerzimmer als Streamingraum, in dem der Besucher sich selbst begegneten.  Foto: Kunz, Christiana

Die Biografie ist immer die plausibelste Interpretation", sagt Gregor Schneider. Und doch hält er sich an die Unterscheidung von Kunst, Künstler und Interpretation. In Schneiders Kosmos einzutauchen, ist ein besonderes Erlebnis.

In Heilbronn haben Besucher bis Ende Oktober die Gelegenheit dazu, eine etwas andere Ausstellungserfahrung zu machen in einer Schau über drei Stockwerke, die nur über den Aufzug zu erschließen ist. Und: Im Idealfall betritt jeweils nur eine Person eine Etage, so der Wunsch des Künstlers. Eventuelle Warteschlangen inklusive, wie auf der Biennale in Venedig, als Gregor Schneider den Deutschen Pavillon mit seinem "Toten Haus u r" bespielte - und mit dem Goldenen Löwen geehrt wurde.

 


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Alltägliche Räume in irritierende Orte verwandeln

Interreligiöse Bezüge: "It"s All Rheydt, Kolkata, 2011" nennt Gregor Schneider diese mehrteilige Arbeit aus Videosequenzen und Fundstücken.
Interreligiöse Bezüge: "It"s All Rheydt, Kolkata, 2011" nennt Gregor Schneider diese mehrteilige Arbeit aus Videosequenzen und Fundstücken.  Foto: Kunz, Christiana

Am Samstag erhält der Künstler aus Mönchengladbach-Rheydt den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für Skulptur - und damit verbunden eine Einzelausstellung. Hatte Schneider 2001 gleich 24 Räume nach Venedig transferiert und verbaut, sind es in Heilbronn weniger. Seine künstlerische Strategie, mit wenigen, präzisen Eingriffen alltägliche Räume in irritierende Orte zu verwandeln, ist dieselbe. In knapp zwei Wochen haben er und sein Mitarbeiter im Zwei-Mann-Betrieb ein Haus im Haus gebaut, unterstützt vom Team der Städtischen Museen Heilbronn und in intensivem Austausch mit Kuratorin Rita Täuber.

"Ich bin Bildhauer und baue Räume", stellt Schneider unsere Vorstellung von Bildhauerei und Installation auf den Kopf. Seine Leitidee: dass Räume das Bewusstsein ihrer Bewohner prägen, und nicht nur das ihrer Bewohner. Wir alle sind stets physisch und psychisch Räumen ausgeliefert. So auch in der Kunsthalle, in der der Besucher unausweichlich zum Voyeur wird.

 


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"Wir können Räumen nicht entkommen"

Teil der Ausstellung, oder: der Übergang zwischen Leben und Kunst.
Teil der Ausstellung, oder: der Übergang zwischen Leben und Kunst.  Foto: Kunz, Christiana

"Dass wir Räumen nicht entkommen können, ist uns durch Corona wieder bewusst geworden", erläutert Gregor Schneider im Gespräch seine Arbeit. Aber auch, dass "Kunst nicht immer im positiven Sinne human ist". "Es gibt eine dunkle Seite in der Welt", sagt Schneider lapidar. Und das im doppelten Sinne: Wer seine Raumfolgen in der Kunsthalle betritt, tritt ins Dunkle.

"It's All Rheydt, Kolkata, 2011" entstand mit dem Goethe-Institut, als Gregor Schneider eingeladen war, während des Durga-Puja-Festivals eine Straße aus Mönchengladbach-Rheydt in Kolkata nachzubauen: mit Unterstützung hunderter helfender Hände entstand eine gigantische Skulptur für nur acht Tage, ein Tempel, der nach dem religiösen Fest im Fluss verschwand, alles festgehalten auf drei Videoleinwänden im Erdgeschoss.

Verantwortung im Umgang mit dem Nationalsozialismus

Seit seiner Jugend baut Gregor Schneider Räume, die ihren Ursprung im sogenannten "Haus u r" in der Unterheydener Straße 12 nehmen. Seither sind Verdoppelung und Wiederholung seine Vorgehensweise - im Sinne von Bestätigung des Vorhandenen oder des potenziell Vorhandenen. Nichts wird wirklich neu erfunden, sondern rekonstruiert.

 


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So hinterfragt die Arbeit "Odenkirchener Straße 202" - ebenso im Erdgeschoss als Videoinstallation zu erspüren - die historische Verantwortung und den Umgang mit dem Nationalsozialismus: am Beispiel von Joseph Goebbels" Geburtshaus. Just im Biennale-Jahr 2001 erfuhr Schneider, dass es nur wenige hundert Meter entfernt von seinem Familienhaus, dem Haus ur, steht und erwarb die Immobilie. Nicht, "um Geschichte umzuschreiben", vielmehr eine Steilvorlage für den Raumspezialisten, um den "Zustand des Unausgesprochenen, des Unfassbaren" zu recherchieren.

Verschwundene Wirklichkeiten

Andere mögen Dinge aufschreiben, Gregor Schneider sammelt Räume, das können auch Straßen, Laternen oder Wände sein wie im Tagebau Garzweiler im nördlichen Rheinischen Braunkohlerevier, dem ganze Dörfer und Städte zum Opfer fielen. "Terra Nova" heißt die magisch, seltsam idyllisch anmutende Fotoarbeit, die den Tagebau dokumentiert und das Ausstellungsplakat schmückt. "Verschwundene Wirklichkeit" nennt es Schneider.

"N. Schmidt" lautet der Titel der Arbeit im ersten und zweiten Obergeschoss - und ist der Name einer Kunstfigur aus Schneiders Welt. Man vermutet, es handele sich um die menschenleere Vier-Zimmer-Wohnung eines gewissen Herrn Schmidt, die man hier betritt.

In den jeweils in beiden Etagen identisch gebauten Raumfolgen öffnet der Besucher Türen, geht durch dank Teppichböden nahezu schalldichte Zimmer in ein beunruhigend in kaltem Weiß gekacheltes Bad. Und weiter in einen Zockerraum mit Livestream, in dem wir uns selbst begegnen: der fließende Übergang zwischen Kunst und Leben.

Ausstellungsdauer: Kunsthalle Vogelmann, bis 29. Oktober, täglich außer Montag, 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr. Eintritt: 8(5) Euro. Katalog im Snoeck-Verlag: 42 Euro.


Bildhauer Gregor Schneider
Bildhauer Gregor Schneider  Foto: Kunz, Christiana

Zur Person: Arbeitsschwerpunkt des Künstlers Gregor Schneider, 1969 in Rheydt geboren, sind gebaute Räume. Für sein für den Deutschen Pavillon in Venedig realisiertes "Totes Haus u r" erhielt er 2001 den Goldenen Löwen der Biennale. Schneider studierte an der Kunstakademie Düsseldorf und Münster sowie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Er lebt in Mönchengladbach.

 
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