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Netto-Null-Verbrauch bei Flächennutzung: Das wird ein harter Kampf

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Immer mehr Ansprüche, immer weniger Spielraum: Die Bürgerinitiative pro Region diskutiert über ein brisantes Thema, das auch Heilbronn-Franken in Atem hält. Weitere Konflikte sind vorprogrammiert, wenn der Landesentwicklungsplan fortgeschrieben wird. Was sagt die zuständige Ministerin?

Stimme-Chefredakteur Uwe Ralf Heer (Mitte) moderierte die spannende Diskussion mit Professor Dr. Stefan Siedentop, Wissenschaftlicher Direktor des ILS und Professor an der TU Dortmund (links), Klaus Holaschke, Oberbürgermeister der Stadt Eppingen und Vizepräsident des Gemeindetags (daneben) sowie Klaus Mandel, Direktor des Regionalverbands Heilbronn-Franken (rechts) und Nicole Razavi, Ministerin für Landesentwicklung und  Wohnen.
Stimme-Chefredakteur Uwe Ralf Heer (Mitte) moderierte die spannende Diskussion mit Professor Dr. Stefan Siedentop, Wissenschaftlicher Direktor des ILS und Professor an der TU Dortmund (links), Klaus Holaschke, Oberbürgermeister der Stadt Eppingen und Vizepräsident des Gemeindetags (daneben) sowie Klaus Mandel, Direktor des Regionalverbands Heilbronn-Franken (rechts) und Nicole Razavi, Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen.  Foto: Ralf Seidel

Wohlstand sichern und Klima schützen. Wirtschaft fördern und Natur erhalten. Mobilität stärken und Umwelt schonen. Nahrungsmittel anbauen und erneuerbare Energien ausbauen. Wohnraum schaffen und Zersiedelung stoppen. Diese Ziele kollidieren immer heftiger, seit die großen Krisen überhandnehmen. Wie sollen Flächen in Zukunft genutzt werden? Im Land, in der Region, in den Kreisen, in den Gemeinden? Darum ging es bei einer spannenden Diskussion der Bürgerinitiative pro Region Heilbronn-Franken am Freitag im Carmen-Würth-Forum in Künzelsau, die Stimme-Chefredakteur Uwe Ralf Heer moderierte.


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Die Ressource Fläche ist endlich

Besonders der ländliche Raum rückte dabei ins Blickfeld. Denn der Kampf um die Flächen wird umso größer, je mehr Windräder und Solaranlagen dort Platz finden sollen. Und je mehr die heimische Landwirtschaft ihren Beitrag zur Ernährungssicherheit leisten soll, ohne die biologische Vielfalt dabei auf Spiel zu setzen. Klar ist: Was der eine beansprucht, steht dem anderen nicht zur Verfügung. Denn selbst wenn es immer wieder heißt, dass zu viel Fläche verbraucht wird, darf eines nicht vergessen werden: Die Ressource Fläche ist endlich. 

Quadratur des Kreises 

Professor Dr. Stefan Siedentop ist ein ausgewiesener Experte für Raumordnung in Deutschland. Vor der Podiumsdiskussion hielt er einen Impulsvortrag.
Professor Dr. Stefan Siedentop ist ein ausgewiesener Experte für Raumordnung in Deutschland. Vor der Podiumsdiskussion hielt er einen Impulsvortrag.  Foto: Ralf Seidel

Es geht also darum, eine neue Balance zu finden, die allen Ansprüchen und Interessen gerecht wird. Das gleiche mitunter schon heute „einer Quadratur des Kreises“, sagt Klaus Mandel, Direktor des Regionalverbands Heilbronn-Franken. Was soll dann erst werden, wenn die grün-schwarze Regierung Baden-Württembergs den „Landesentwicklungsplan“ neu aufsetzt? Der bestehende wurde 2002 verabschiedet und muss dringend fortgeschrieben werden. Nicole Razavi, Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen, sieht „völlig neue Flächenansprüche“ heraufziehen, nachdem Coronakrise und Ukrainekrieg „geradezu ein Erdbeben“ ausgelöst hätten „und kein Stein auf dem anderen geblieben ist“. Ganz zu schweigen von der Klimakrise. Die Politikerin weiß: „Da müssen wir einige dicke Bretter bohren.“ 

Flächendruck ist gewaltig 

Im Grunde geht es darum, die Ausweitung der Siedlungs- und Verkehrsfläche zu stoppen, ohne die Wirtschaft und den Wohlstand zu bremsen. Diese Flächen müssen also intensiver, innovativer und kooperativer genutzt werden. Zugunsten von Natur und Umwelt sowie der Erzeugung regenerativer Energie und landwirtschaftlicher Produkte. Der Flächendruck ist schon heute gewaltig. Und wird weiter zunehmen, wenn bis 2035 gar keine neuen Flächen mehr verbraucht werden sollen. So wollen es Grüne und CDU im Land, im Koalitionsvertrag steht dazu das Versprechen der „Netto-Null“. Auch nicht mehr benötigte Infrastruktur soll zurückgebaut und der Versiegelung insgesamt Einhalt geboten werden. 

"Weniger Ideologie, mehr Pragmatismus" 

Klaus Holaschke, Oberbürgermeister der Stadt Eppingen und Vizepräsident des Gemeindetags, ist skeptisch. „Das Ziel eines Netto-Null-Verbrauchs wird die Konflikte noch verschärfen. Ich sehe nicht, wie wir ohne neue Flächen all die Anforderungen gewährleisten sollen.“ Sein Credo heißt: „Weniger Ideologie, mehr Pragmatismus.“ Die Ministerin kontert: „Bis 2035 werden wir selbstverständlich noch weitere zusätzliche Flächen brauchen, etwa für die Produktion in der Wirtschaft.“ Trotz fortschreitender Digitalisierung müssten „die Dinge also noch eine ganze Weile parallel laufen“, so Razavi. 

 


 

Mangelnde Innenentwicklung ist wunder Punkt

Kein Weg führe jedoch daran vorbei, „alle Anstrengungen zu intensivieren, um mehr Flächen innerorts zu aktivieren“. Damit hat sie einen wunden Punkt getroffen, der in der Debatte breiten Raum einnimmt. Besonders in ländlichen Gebieten wie Hohenlohe klaffen Baulücken und gibt es Leerstände in Gemeinden und Dörfern, während an den Rändern neue Baugebiete ausgewiesen werden: mit großzügigen Flächen für Einfamilienhäuser. Tun die Kommunen zu wenig, um das Wohnen in den Zentren zu forcieren? Stefan Siedentop nimmt sie in Schutz. „Viele Gemeinden wollen schon vieles richtig machen, werden aber vom Bundesrecht gebremst“, meint der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Professor an der Technischen Universität Dortmund. Denn: „Es ist kaum möglich, Brachflächen zu mobilisieren, wenn die Eigentümer Nein sagen.“ Siedentop wirbt dafür, dies juristisch zu ändern, bis hin zu einer „theoretischen Enteignung“.


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Bundespolitik in der Pflicht 

So weit will Ministerin Nicole Razavi nicht gehen: „Vorher gilt es, alle anderen Möglichkeiten zu nutzen“ – und dabei die Bundespolitik bei gesetzlichen Änderungen in die Pflicht zu nehmen. „Es gibt genügend Ideen für die Innenentwicklung.“ Modulare Baumodelle etwa, mit zeitlich flexibler Nutzung, „oder indem man auf den Supermarkt einstöckig noch etwas draufbaut“. Mehrgeschosswohnungsbau oder Mietwohnungsbau müssten gestärkt werden, um Flächen besser für Wohnzwecke zu nutzen. Wie es gehen kann, beschreibt Razavi an einem Beispiel aus ihrem Heimatkreis Göppingen. Das sei in einer Gemeinde „erst fünf Grundstücke für Einfamilienhäuser geplant worden“, dann sei auf der Fläche doch ein Wohnquartier entstanden, in dem deutlich mehr Menschen Platz haben. „Genau dieses Denken brauchen wir, und zwar ohne erhobenen Zeigefinger.“ 

Gesellschaftliches Umdenken gefordert 

Die Veranstaltung der Bürgerinitiative pro Region zur Flächennutzung fand am Freitagabend in Carmen-Würth-Forum in Künzelsau statt.
Die Veranstaltung der Bürgerinitiative pro Region zur Flächennutzung fand am Freitagabend in Carmen-Würth-Forum in Künzelsau statt.  Foto: Ralf Seidel

Andererseits fordert die Ministerin: „Wir brauchen ein gesellschaftliches Umdenken.“ Und nennt auch hier ihren Heimatkreis Göppingen. „Dort wurden vier Bauprojekte durch Bürgerentscheide abgelehnt.“ Der hohe Veränderungsdruck treffe immer wieder auf geringe Veränderungsbereitschaft. „So wird Baden-Württemberg aber ein Freilandmuseum, und kein Ort der Zukunft“. Razavi ist dafür, die „Widerspruchsverfahren auch beim Thema Wohnungsbau abzuschaffen“ - so wie bei Bauprojekten im Bereich erneuerbare Energien.        

Bürger stärker einbinden? Für und Wider  

Stefan Siedentop wirbt dafür, die Bürger so früh wie möglich einzubinden. Sonst hätten sie das Gefühl, „abgehängt zu werden“. Bürgerentscheide seien immer ein Hinweis darauf, „dass vorher zu wenig miteinander diskutiert worden ist“ Eine Lösung seien „Bürger-Werkstätten, wenn die Planung und Zukunft noch offen ist“. Nicole Razavi hält wenig davon: „Dann ist schon ganz früh so viel Sand im Getriebe, dass wir gar nicht mehr vorankommen“. Klaus Holaschke sieht das genauso. Und Klaus Mandel pflichtet bei: „Wir stoßen immer wieder auf gut gepflegten Egoismus. Es gibt aber kein lebenslanges Recht auf einen guten Ausblick beim Wohnen.“ Mit den Menschen reden, sei wichtig. „Aber man auch im Sinne des Gemeinwohls zu einem Ergebnis kommen.“ 

Herkulesaufgabe steht bevor 

Stefan Siedentop baut eine Brücke. Und ist dafür, bei der Planung und Umsetzung von Bauprojekten eine „Balance“ zu finden zwischen „Beschleunigung und Zentralisierung“ einerseits und der frühzeitigen Beteiligung der Menschen andererseits. „Destruktive Verweigerungshaltungen“ könnten schließlich nicht wegdiskutiert werden. Und so wurde am Ende überdeutlich: Allein das Thema „Wohnen in der Zukunft“ birgt im Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenentwicklung so viel Zündstoff, dass die Neuordnung der Flächennutzung in diesem Land eine wahre Herkulesaufgabe wird.

Hintergrund: Landesentwicklungssplan 

Die grün-schwarze Landesregierung will bis zum Jahr 2035 erreichen, dass im Land unterm Strich keine neuen Flächen verbraucht werden. So steht es im Koalitionsvertrag. Ein wesentlicher Bestandteil, um dieses Netto-Null-Ziel zu erreichen, ist der neue Landesentwicklungsplan (LEP), der jetzt fortgeschrieben wird. Der bestehende datiert aus dem Jahr 2002 und beinhaltet weder die stark gestiegene Bedeutung der erneuerbaren Energien, noch die gravierenden Folgen der Digitalisierung, etwa für die Bereiche Wohnen und Arbeiten. „Die zwölf Regionalverbände sind für uns in diesem Prozess die wichtigsten Partner“, sagt die zuständige Landesministerin Nicole Razavi. Einer davon ist der für Heilbronn-Franken. „Wir betrachten das Land aus der Vogelperspektive und legen eine Art Kursbuch darüber, und die Verbände müssen es dann passgenau mit den Kommunen umsetzen.“ Gerade für die ländlichen Räume sieht sie völlig neue Chancen.  

 

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