Region/Norwegen
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Per Anhalter zum Polarkreis

Vom Frühstück mit Rehen und tanzenden Polarlichtern: Stimmt!-Schreiber Johannes über sein unvergessliches Abenteuer im hohen Norden.

Von Johannes Zimmermann
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Lesezeit  6 Min
Natur pur auf der Reise durch Norwegen. Fotos: Johannes Zimmermann

Zwei Monate. 3000 Kilometer. 400 Euro. Und eine unvergessliche Reise in den hohen Norden. Vor einigen Monaten bin ich vom südlichsten Punkt Norwegens die weite Strecke bis zum Polarkreis per Anhalter gefahren. Ich habe auf Bauernhöfen gearbeitet, bei Einheimischen gelebt, im Zelt gecampt – und möchte mit diesem Erfahrungsbericht Mut machen. Denn abenteuerliches und freies Reisen muss überhaupt nicht teuer sein. Für gerade einmal 200 Euro im Monat kann man sich selbst in einem so teuren Land wie Norwegen der Herausforderung des hohen Nordens stellen.

Schlafsack, Campingkocher und Co. 

Mit meinem riesigen Wanderrucksack stehe ich gegen 20 Uhr an den Kais in Kristiansand, der Hafenstadt ganz im Süden Norwegens. Ein konkretes Ziel habe ich eigentlich nicht, nur den Wunsch, so weit wie möglich in den Norden zu kommen. Und zwar ganz ohne eigenes Auto, Bus und Bahn, die in Norwegen ohnehin eher dürftig ausgebaut sind. Nein, ich möchte die komplette Strecke per Anhalter zurücklegen. Um unterwegs möglichst autark zu sein, habe ich alles im Gepäck, was es für solch ein Abenteuer braucht: Zelt und Schlafsack, Campingkocher und Wasserbeutel – und vor allem eine gute Regenjacke, denn das Wetter an der Westküste ist vor allem eines: nicht trocken.

Smile: Ein Selfie während der Reise darf nicht fehlen.

Es ist ein gleichermaßen ungewöhnliches wie freies Gefühl, nach der ersten Nacht im Zelt von den Strahlen der Morgensonne geweckt zu werden. Da in Norwegen das „Jedermannsrecht“ gilt, darf man überall in der freien Natur campen, solange man niemanden stört und seinen Müll mitnimmt. Dieses wunderbare Gesetz ermöglicht mir, mein Frühstück gemeinsam mit zwei Rehen am Ufer eines Sees zu verbringen und die Zivilisation komplett hinter mir zu lassen. Nun, zumindest für eine Weile, denn jetzt beginnt die eigentliche Reise per Anhalter. Hinter einem Einkaufsladen habe ich mir etwas Pappe organisiert, auf die ich mit dicken Filzstiftstrichen „Stavanger“ schreibe, den Namen der nächsten größeren Stadt. Mit diesem Schild in der Hand stehe ich nun am Rande der Eurostraße – die norwegische Autobahn, die aber eher einer gemütlichen Landstraße gleicht – und warte. Und warte. Die Zeit verstreicht, und auch nach über zwei Stunden will noch keines der Autos für mich anhalten. Was habe ich falsch gemacht? Kann man in Norwegen etwa nicht per Anhalter fahren? Sehe ich irgendwie unfreundlich aus?

Norweger sind sehr freundlich und vertrauensvoll

Da – eine Frau im blauen Volvo hält neben mir an und bedeutet mir, einzusteigen. „Du stehst echt an einer blöden Stelle“, bemerkt sie beiläufig, während ich meinen Rucksack mühevoll in den Kofferraum wuchte und mich dankbar neben ihr niederlasse. „Ich bringe dich zur nächsten Bushaltestelle, von dort hast du bestimmt mehr Erfolg.“ Und so nimmt mich die Dame stolze 700 Meter mit – sie muss hier von der Eurostraße abbiegen. Aber ich habe in der Zwischenzeit die wichtigste Regel fürs Trampen in Norwegen gelernt: Warte nur an Orten, an denen Menschen gut anhalten können. Das klingt so einfach, doch im Laufe der Reise begegnen mir immer wieder andere Tramper, die an Orten stehen, wo selbst die freundlichsten Menschen niemals anhalten können. Mitten in einem Kreisverkehr zum Beispiel.

Mit diesem Gepäck hat sich Johannes ins Abenteuer gestürzt.

Und der Tipp mit den Bushaltestellen ist genial, denn schon nach zehn Minuten nehmen mich Catherine und Rebecka mit – eine sehr kuschelige Erfahrung mit zwei Menschen, Hund und riesigem Wanderrucksack in einem kleinen VW up Platz zu finden. Aber die Norwegerinnen sind so herzlich. Sie geben mir Tipps zum Bezahlen und Geldsparen in diesem riesigen Land. Wo ich am besten einkaufe, und welche Orte ich sehen soll. Das ist allgemein etwas, das ich von den Norwegern lerne, denn ein weiterer Mann, der mich für einige Kilometer mitnimmt, erzählt mir: "In Norwegen gibt es ein unausgesprochenes Gesetz, das besagt: Wenn ein Norweger einen anderen sieht, ist von Grund auf erstmal Vertrauen da.“ Was für eine Lebenseinstellung, wenn man aus dem misstrauischen Deutschland kommt! Tatsächlich genieße ich die norwegische Landschaft, die an uns vorbeizieht, sehr.

Egal, wie lange du wartest: Es wird immer jemand anhalten

Doch das, was diese Reise wirklich besonders macht, ist die Begegnung mit den weit über hundert lieben Menschen aus allen Orten der Erde, die mir begegnen und mit denen ich mich austausche: Seien es italienische Unternehmer, syrische Flüchtlinge, mazedonische Familienväter, schwedische Studentinnen, norwegische Omas, finnische Bowlingweltmeister oder dänische Milchbauern – die Gespräche sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Und nach einigen erfolgreichen Tagen per Anhalter lerne ich meine zweite wichtige Regel während dieser Reise: Egal, wie lange du wartest: Es wird immer jemand anhalten. Die längste Zeit, die ich jemals auf eine Mitfahrgelegenheit warten musste, waren sechs Stunden an derselben Stelle. Und womit ich nach dieser Wartezeit belohnt werde, ist unglaublich: Nach unzähligen Stunden, die ich nur mit einer wilden Schafherde verbracht habe, die mir meine Karotten wegknabbern wollte, hält Silje mit ihren beiden Söhnen Hakon und Haur neben mir an.

Die Aussicht: wie gemalt.

Was als Familienausflug in das Nationalparkdorf Odda beginnt, wird beinahe zu meiner offiziellen Adoption in die Familie. Denn die beiden Söhne finden das Abenteuer, das ich gerade erlebe, unglaublich spannend, und die beiden Neunjährigen löchern mich in fließendem Englisch bis ins kleinste Detail darüber. Und statt mich nur ein Stück weit mitzunehmen, laden sie mich ein, der Familie bei einer Gletscherwanderung Gesellschaft zu leisten und in deren Hütte in den Bergen zu übernachten. Doch es kommt, wie es kommen muss: Zwar kann ich mein Handy beim Wildcampen quasi nie laden, doch für den gelegentlichen Blick auf die Wettervorhersage reicht es: Es kommt eine riesige Regenfront auf uns zu. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Sie soll über drei Wochen lang andauern. Jetzt ist Dauerregen bei heißen 7 Grad Celsius im August nicht unbedingt das, was man als entspanntes Sommerreisen bezeichnen würde. Und ja, Dauerregen heißt auch mal das „Obdachlosendasein“ in Kauf zu nehmen und die durchnässten Sachen in Unterführungen zu trocknen.

Darum entschließe ich mich, für diese Zeit auf einem Biobauernhof zu arbeiten. Nach drei vollen Wochen führt mich die Reise weiter in den Norden. Nur durch die Hilfe anderer Menschen bin ich bereits von Kristiansand bis nach Bergen gekommen – und nun steht eine neue Herausforderung an: Das Reisen per Anhalter zu zweit. Denn mein Freund Aron aus Dresden kommt mich für zwei Wochen in Norwegen besuchen. Gemeinsam verfolgen wir eine verrückte Mission: Schaffen wir es von Bergen innerhalb von einer Woche auf die tausende Kilometer entfernten Lofoten, dieses wunderbare Archipel im Polarkreis, wo die über tausend Meter hohen Berge direkt aus dem Ozean emporragen?

Freundlichkeit und Flexibilität zahlen sich aus

Auf dem Weg dorthin lernen wir eine weitere Regel fürs Trampen: Freundlichkeit und Flexibilität zahlen sich aus. Warum ich das sage? Nun, zuerst dachte ich, mit zwei Männern zu trampen sei wesentlich schwieriger als allein. Tatsächlich aber ist genau das Gegenteil der Fall gewesen: Auf die Frage, warum uns Dutzende von Menschen mitnehmen, antworten beinahe alle dasselbe: Ihr saht freundlich aus, und ich dachte, es könnte bestimmt ein interessantes Gespräch auf der Fahrt entstehen. Für dieses Vertrauen bin ich den Norwegern zutiefst dankbar. Mit dem Punkt Flexibilität meine ich, dass wir manchmal unser Gepäck komplett auseinandergenommen haben, um es in die kleinsten Autos hineinzuquetschen.

Tatsächlich beschließen wir ziemlich schnell, alle klassischen Touristenattraktionen weit hinter uns zu lassen und uns an Orte zu wagen, an die sich ein- bis zweimal am Tag ein Auto verirrt – nach gerade einmal vier Tagen fahren wir über die Grenze zum Polarkreis. Und ja, obwohl es noch Ende August ist, können wir in der darauffolgenden Nacht grüne Polarlichter am Himmelszelt tanzen sehen. Nach fünf Tagen und beinahe zweitausend Kilometern stehen wir schließlich am äußersten Rand der Lofoten. Hinter uns die beiden Zelte auf einer kleinen Wiese vor den hohen Bergen. Vor uns eine schroffe Felsküste und dahinter das offene, unendlich Weite Nordmeer. Wir atmen die nach Salz und Algen riechende Brise tief ein – und sind angekommen.

Mein Fazit in aller Kürze 

Zwei Monate Trampen durch Norwegen sind weitaus zu ereignisreich, um dieser Fülle ansatzweise in einem Zeitungsartikel von einer Seite gerecht zu werden. Und dennoch möchte ich zusammenfassen, was dieses Abenteuer für mich bedeutet hat – und was du daraus mitnehmen kannst: In Norwegen ist Wildcampen weit verbreitet, doch kaum ein Mensch reist per Anhalter. Die Norweger sind jedoch ein unglaublich freundliches Volk, weswegen ich selbst an den entlegensten Bergpässen immer eine Mitfahrgelegenheit fand. Ob im Auto eines Jägers, auf der Ladefläche eines Traktors oder in der Teeküche eines Wohnmobils – der Norden macht etwas mit den Menschen. Man hilft einander, wo man kann. Und man muss kein schlechtes Gewissen haben, mit diesem Reisestil ja nur zu nehmen und nichts zu geben.

Eine Mutter meinte einmal zu mir: „Du gibst auf eine ganz andere Weise. Du verbreitest Lebensfreude und Leichtigkeit. Und du machst Mut mit deiner Art, dich der Welt zu öffnen.“ Das Reisen per Anhalter ist keine Zwecklösung. Das Ziel ist nicht, schnell und günstig von A nach B zu kommen. Bei dieser Art zu Reisen geht es um Begegnung. Um Vertrauen. Um ehrlichen Austausch. Darum, wirklich in eine Kultur einzutauchen. Und Menschen zu inspirieren, einfach so, wie du bist. Die Welt wartet auf dich. Darauf, dass du dich zeigst – und alles, was du zu geben hast.


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