Schäuble: Politik muss Europa relevanter machen
Wolfgang Schäuble (75) ist der dienstälteste Abgeordnete des Bundestages. Seit 1972 gehört der Christdemokrat dem Parlament an. In seinem Büro im Bundestag sprach er nun mit Stimme-Politikchef Hans-Jürgen Deglow.

Herr Schäuble, sind Sie froh, dass nun die parlamentarische Sommerpause beginnt?
Schäuble: Nach den Aufregungen der letzten Wochen bietet die Sommerpause jedenfalls die Chance zur Konsolidierung.
Einige Tage lang schien keine Konsolidierung, stattdessen aber sogar der Bruch der Fraktionsgemeinschaft aus CDU und CSU möglich. Dann kam die Einigung in letzter Minute. Wie wichtig ist es, dass CDU und CSU weiter zusammengehen?
Schäuble: CDU und CSU hatten in der Geschichte der Bundesrepublik als große gemeinsame Volkspartei eine stabilisierende Funktion für unser ganzes parlamentarisches System. Deshalb ist es wichtig, dass die Union zusammen bleibt. Hinter den Differenzen verbirgt sich aber ein Problem, das alle westlichen europäischen Gesellschaften und alle Parteien beschäftigt. Den zugrunde liegenden Konflikt hat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck sehr treffend beschrieben: Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt.
Wie interpretieren Sie diesen Satz?
Schäuble: Wir sehen und spüren nun konkret, was die Globalisierung für uns bedeutet und mit uns macht - ob es uns gefällt oder nicht. Wir sind mit den Auswirkungen der Entwicklungen in allen Teilen der Welt, insbesondere in Afrika und auf der anderen Seite des Mittelmeeres, sehr intensiv und direkt konfrontiert. Diese Erkenntnis geht mit meiner tiefen Überzeugung einher, dass wir ein starkes, einiges und handlungsfähiges Europa brauchen.
Nur in der Einigkeit lassen sich also die Herausforderungen meistern?
Schäuble: Wir haben jedenfalls im Zeitalter der Globalisierung keine gute Zukunft, wenn wir Europäer nicht gemeinsam handeln. Darüber habe ich gerade mit dem ungarischen Präsidenten Orban gesprochen. Wir hatten einen offenen und intensiven Meinungsaustausch, auch über die Stabilität auf dem westlichen Balkan. Ich habe ihm gesagt, dass Europa die Probleme lösen kann, aber dafür muss es einig und stark sein.
Statt Einigkeit sehen wir einen permanenten Streit über die Migration...
Schäuble: Weltweit gibt es 60 bis 70 Millionen Flüchtlinge, die wenigsten befinden sich in Europa. Manche befürchten jedoch: sie sind noch nicht in Europa, sie werden aber noch kommen. Unser Werte-Verständnis verpflichtet uns, Menschen, die in Not sind, nach besten Kräften zu helfen. Man sollte auch niemandem unterstellen, dass er das nicht will. Die Grundfrage ist, ähnlich wie in der Pazifismus-Debatte: Wie schaffen oder erhalten wir eine Ordnung, in der die Menschen in Freiheit und gleichzeitig so zusammenleben, dass es funktioniert? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, deshalb ist der Konflikt auch so kompliziert. Jedenfalls darf der Diskurs nicht dazu führen, dass wir Debatten über andere Probleme ausblenden. Die Politik muss besonders in schwierigen Zeiten zur Mäßigung und zur Vernunft zurückfinden. Es wäre gut, wenn die Beteiligten in allen Parteien und allen Fraktionen die Sommerpause dazu nutzen und sich fragen: Was ist wirklich wichtig, und worauf wollen wir uns konzentrieren?
Muss die europäische Idee besser kommuniziert werden?

Schäuble: Vielleicht ist das Problem, dass für uns Menschen alles, was wir sicher zu haben glauben, an Wertschätzung verliert. Das ist auch mit der Freiheit und der Demokratie so, nicht nur für uns Deutsche. Ich bin überzeugt, dass die europäische Idee bei den meisten Menschen auf hohe Zustimmung stößt. Die Menschen wollen nicht in einem Europa leben, in dem die Grenzen wieder hermetisch abgeriegelt sind. Wenn wir Grenzen wieder kontrollieren würden, dann wären wir bald auch wieder zu einem Zustand zurückgekehrt, in dem über Grenzen an sich gestritten wird. Wenn ich zurückblicke: Die Debatte über die Oder-Neiße-Grenze hat uns doch noch bis in die 90er Jahre beschäftigt.
Mangelt es heute insgesamt daran, dass die Politik zu wenig erklärt?
Schäuble: Es ist unbestritten, dass die offenen Grenzen innerhalb Europas kein wirkliches Problem sind. Im Gegenteil: Wir profitieren von ihnen. Aber weil eben diese Offenheit selbstverständlich geworden ist, droht der höhere Sinn eines einigen Europas verloren zu gehen. Unter den neuen Herausforderungen muss es der Politik künftig besser gelingen, den Menschen dieses prioritäre Interesse zu vermitteln. Manchmal kann es ermüdend sein zu hören, es gehe doch um „deutsche Interessen“. Es gibt kein besseres deutsches Interesse als die europäische Einigung! Und dass wir nicht in die Zeiten von vor 1945 zurückfallen. Isolation hilft niemandem in Europa. Das muss man wieder und wieder erklären. Das ist die Aufgabe von Politik, aber es ist angesichts der heutigen Informationsflut schwieriger geworden.
Muss ein einiges Europa mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen?
Schäuble: Davon bin ich überzeugt. Ich erinnere an John F. Kennedy, der schon vor über 50 Jahren die Europäer aufgefordert hat, mehr von den gemeinsamen Lasten zu übernehmen. Angela Merkel, Emmanuel Macron und viele andere arbeiten daran, Europa relevanter zu machen. Das ist auch notwendig. China ist wieder zu einer historischen Rolle gekommen, die es weit mehr als 100 Jahre nicht hatte. Auch Indien ist nicht zu unterschätzen, ein wahnsinnig kompliziertes Land, aber immerhin mit einer demokratischen Grundstruktur. Dann sind da ganz Asien, Afrika und Lateinamerika mit vielschichtigen Problemen. Und Putin, unter dem Russland die von ihm so empfundene Demütigung des Zusammenbruchs des sowjetisch dominierten Imperiums ein Stück weit überwunden hat. Wir müssen heute mehr denn je darauf achten, dass in dieser komplizierten Welt Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden.
Die Welt ist in Unordnung?
Schäuble: Zu Bonner Zeiten jedenfalls schien die Welt klarer geordnet. Die Amerikaner haben uns beschützt. Wir waren die Guten und die anderen die Bösen. Dann ist die Sowjetunion implodiert. Francis Fukuyama schrieb 1992 vom „Ende der Geschichte“. Von wegen. Es sind neue, vielschichtige Konflikte entstanden, die eine Führungsmacht allein nicht lösen kann. „America First“ reicht nicht. Wir brauchen deshalb heute mehr multilaterale Bündnisse.
Wird die Lage in Deutschland zu oft zu schlecht geredet?
Schäuble: Bei allen wirtschaftlichen Erfolgen darf man nicht glauben, dass alleine der Boom allen Menschen hilft. Viele scheitern zum Beispiel oft schon daran, eine bezahlbare Wohnung zu finden - sei es in Berlin, Heilbronn oder anderswo. Oder der Alterungsprozess: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits in der vorletzten Legislaturperiode große gesellschaftliche Gruppen zu einem Demographie-Gipfel eingeladen, dafür hat sie sogar Spott geerntet. Aber es war weitblickend.
Inwiefern?
Schäuble: Wir müssen auch darüber diskutieren, was wir für eine älter werdende Bevölkerung tun wollen und können, und darüber, wie wir die Jungen einbinden. Dabei geht es nicht nur darum, wie sich die Rentenversicherung künftig finanzieren lässt. Früher war jemand wie ich mit 75 Jahren im Gnadenalter, heute steigt die Lebenserwartung, es drohen aber auch Demenz und Pflegebedürftigkeit. Hier muss die Politik dringend Antworten finden. Die Menschen fürchten zudem dramatische Veränderungen durch die technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen.
Wirkt ein Streit, wie wir ihn nun innerhalb der Union erlebt haben, denn vertrauensbildend?
Schäuble: Voraussetzung für die Demokratie ist der Streit. Populisten und Demagogen kennen nur eine Meinung, sie sind sich immer untereinander hundertprozentig einig. Es heißt: Wenn die Fanfare erklingt, ist der Verstand schnell verschwunden. Demokratie basiert auf dem Prinzip des vernünftigen, regelgebundenen Streits, man kann es mit dem Sport vergleichen. In den letzten Wochen haben wir sicher ein Beispiel dafür geliefert, dass Streit nicht immer überzeugend wirkt. Aber 80 Millionen Menschen haben auch nicht nur eine Meinung. Sie haben unterschiedliche Interessen.
Heute scheinen die Auseinandersetzungen intensiver, erbitterter geführt zu werden.

Schäuble: In der letzten Legislaturperiode stellte die Große Koalition noch fast 80 Prozent aller Abgeordneten. Konflikte wurden scheinbar eher in Hinterzimmern ausgetragen. Es ist aber viel besser, wenn öffentlich und nachvollziehbar im Parlament debattiert und gestritten wird. Als Bundestagspräsident kann ich im Rahmen meiner Möglichkeiten einschreiten, wenn es ausufert oder die Regeln verletzt werden. Die Debatten sind lebendiger, die Menschen interessieren sich wieder mehr für Politik. Den Populisten muss man manchmal 20 Mal widersprechen, aber wir müssen auch die Dinge ernst nehmen, die sie ansprechen. In der Migrationsfrage gibt es jedenfalls keine einfachen Lösungen. Es muss nur klar sein, dass es Grenzen der Belastbarkeit gibt. Auch in meiner Partei gab es Stimmen, dass das Flüchtlingsthema kleiner wird, wenn wir nur weniger darüber sprechen würden. Aber ich bin anderer Meinung. In Heilbronn und anderen Städten und Regionen treibt die Menschen doch die Frage um: Wie bekommen wir es einigermaßen hin? Ein Staat, der sich selbst etwas zutraut, kann das schaffen, sollte es schaffen. Aber man darf die Zweifel nicht verharmlosen.
Sie sind seit 1972 Mitglied des Bundestages. Welche Intensität hatten politische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit?
Schäuble: 1972 war ein Jahr größter Erregungen. Ich bin damals im Zuge vorgezogener Neuwahlen in den Bundestag gekommen. Wir haben sehr über die Ostpolitik gestritten, und es ging dabei nicht immer harmlos zu. Zehn Jahre später, beim Wechsel von Schmidt zu Kohl, führten wir heftige Debatten über den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Das hat nicht nur den Bonner Hofgarten erschüttert, sondern die ganze Republik. Wir hatten schon oft existenzielle Krisen und Herausforderungen, aber heute sind wir mit einer ausgesprochen schwierigen Lage konfrontiert. Die Politik sollte immer wieder erklären, dass es in der Demokratie keine perfekten und einfachen Lösungen gibt. Wichtig ist es, die Menschen mitzunehmen, sie ernst zu nehmen. Wir wissen nicht was kommt. Aber die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ist die Voraussetzung für Freiheit.
Sie haben die Einheit maßgeblich gestaltet und ausgehandelt. Wie schauen Sie heute, 28 Jahre nach Unterzeichnung des Einheitsvertrages, auf unser Land?
Schäuble: Wir hatten, wenn man sich an die Zeit vor dem Mauerfall erinnert, doch unglaubliches Glück. Ein Leben in Frieden und Freiheit und Einheit war für viele ein Traum, an dessen Verwirklichung kaum jemand geglaubt hat. Nun müssen wir die Handlungsfähigkeit Europas wiederherstellen, dazu braucht es Veränderungen. Krisen bieten auch Chancen. Und deshalb bin ich optimistisch. Denn wir haben genügend Krisen in der Welt, also auch viele Chancen.
Eine Frage zur Zukunft: Planen Sie einen Besuch der Buga in Heilbronn?
Schäuble: Wenn sich die Möglichkeit bietet, dann mache ich das selbstverständlich.
Zur Person
Wolfgang Schäuble, geboren am 18. September 1942 in Freiburg, ist mit über 45 Jahren ununterbrochener Mitgliedschaft dienstältester Abgeordneter im Deutschen Bundestag und dienstältester Abgeordneter in der deutschen Parlamentsgeschichte seit der ersten offiziellen konstituierenden Sitzung des Norddeutschen Reichstags im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses am 24. Februar 1867.
Der Christdemokrat ist seit 2017 Präsident des Bundestages. Zwischen 1984 und 1991 sowie von 2005 bis 2017 gehörte er in verschiedenen Positionen der Bundesregierung an, unter anderem als Innenminister und als Finanzminister. Er setzte Auflagen für verschuldete EU-Staaten durch – und schaffte es, erstmals einen Haushalt mit schwarzer Null zu verabschieden. Schäuble handelte 1990 den deutschen Einigungsvertrag maßgeblich mit aus. Von 1998 bis 2000 war er CDU-Bundesvorsitzender.
Schäuble ist mit der Volkswirtin Ingeborg Schäuble verheiratet, mit der er vier Kinder hat. Seine Tochter Christine ist mit dem baden-württembergischen CDU-Landesvorsitzenden und Innenminister, dem Heilbronner Thomas Strobl, verheiratet.