Der BOS-Fachtag „zivil-militärische Zusammenarbeit“ im Landratsamt in Ludwigsburg wurde veranstaltet vom Staatsanzeiger für Baden-Württemberg. Ein wichtiges Ziel des Treffens war auch die Möglichkeit zum Netzwerken zwischen Behördenvertretern, Blaulichtorganisationen und der Bundeswehr.
Russland könnte die Nato „schon morgen“ testen, mahnt Bundeswehr-Kommandeur Giss
Beim Fachtag für Sicherheitsbehörden in Ludwigsburg wird deutlich: Während die Nato ihre Verteidigungspläne vorantreibt, herrscht in zivilen Stellen Unsicherheit über die eigene Rolle im Krisenfall.
Verteidigung gegen einen Aggressor von außen umfasst zwei Komponenten: die militärische Verteidigung durch die Streitkräfte mit Waffen, Ausrüstung und strategischer Planung – und die zivile Verteidigung. Letztere beinhaltet Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Aufrechterhaltung wichtiger staatlicher Funktionen wie Bevölkerungsschutz, Energie- und Lebensmittelversorgung oder Krisenkommunikation.
SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius hat mehrfach betont, die Bundeswehr müsse „kriegstüchtig“ und die Gesellschaft „verteidigungsbereit“ werden. Doch wie steht es darum angesichts der wachsenden Bedrohung durch Russland? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Fachtags für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) am Dienstag in Ludwigsburg.
Vorbereitung auf Verteidigungsfall: Behörden-Vertreter sind unsicher
Dabei kristallisierte sich deutlich heraus: Während Militärplaner längst mit einem Angriff Russlands auf Nato-Territorium rechnen und die Planungen zur Verteidigung Europas voll angelaufen sind, herrscht in vielen zivilen Behörden noch große Unsicherheit. Unklar ist oft, welche Schritte eigenverantwortlich vorzubereiten sind, wenn keine konkreten Weisungen „von oben“ vorliegen. „Wir fühlen uns hilflos“, sagte ein Teilnehmer aus einer großen Stadtverwaltung. „Haben Sie Ideen, womit wir uns schon jetzt intensiver beschäftigen sollten?“, fragte er den Leiter des Landeskommandos der Bundeswehr, Michael Giss.
Giss hatte die rund 250 Anwesenden zuvor mit einem eindringlichen Vortrag wachgerüttelt. „Russland könnte morgen früh die Nato testen“, warnte er. „Sind wir dann bereit?“ Er frage sich, ob Putin, dessen Kriegsmaschinerie „seit 30 Jahren auf Hochtouren“ laufe, die deutsche Gesellschaft als verteidigungsbereit wahrnehme – und ob diese tatsächlich über die entscheidenden Themen diskutiere: „Tun wir alles, um unsere Wirtschaft zu stärken und unabhängig von seinen Rohstoffen zu werden?“ Oder: „Gibt es Pläne für den Fall, dass Lkw-Fahrer aus Osteuropa nicht mehr zur Verfügung stehen, wenn Putin die Ostflanke der Nato angreift?“

Lange Musterungsverfahren und fehlende Klarheit in der Wehrpflicht-Debatte seien problematisch. „Es geht im Kern um die Personalfrage – das ist die Achillesferse der Bundeswehr“, so Giss. Wenn es nicht gelinge, bald deutlich mehr Personal zu gewinnen, werde die Truppe nie das Level erreichen, das für die Landesverteidigung nötig sei.
Kommandeur der Bundeswehr: „Selbst Verantwortung übernehmen“
Auf die Frage des Teilnehmers sagte Giss deutlich: Die Bundeswehr sei nicht zuständig für die zivile Resilienzplanung, die Vertreter von Behörden und Organisationen müssten selbst entscheiden, was zu tun ist. Fest stehe jedoch: Wenn im Verteidigungsfall die Streitkräfte von Kommunen oder Landkreisen Unterstützungsleistungen wie den sogenannten Convoi Support Service forderten, müssten diese liefern – etwa Rastplätze absichern oder Versorgungsleistungen bereitstellen.
Sein Appell: „Das Steuer herumreißen kann jeder in seinem Bereich – dafür braucht es keine Weisung aus Berlin.“ Er riet: „Wenn ich keinen genauen Befehl habe, aber weiß, dass etwas zu tun ist, dann nehme ich ein weißes Blatt Papier, setze mich mit meinen besten Leuten hin und mache einen vorläufigen Plan.“
Nato-Planer: „Gedanklich mit Situation auseinandersetzen“
Was die Nato tut, um das Bündnis auf den Verteidigungsfall vorzubereiten, erläuterte Mario Karnstedt vom Nato Command in Ulm. „Es geht nicht darum, Angst zu machen, sondern sich gedanklich mit Situationen auseinanderzusetzen, um vorbereitet zu sein“, sagte er. Das oberste Prinzip sei Abschreckung – einem potenziellen Aggressor klarzumachen, „dass wir trainieren und Pläne machen, auch wenn uns niemand unmittelbar bedroht“. Dahinter stehe das Versprechen, das Nato-Territorium mit seinen rund einer Milliarde Bürgern in Europa zu schützen. Auch Karnstedt betonte: „Wir gehen davon aus, dass der Host Nation Support von den jeweiligen Ländern abgedeckt wird.“ Wie das geschehe, sei der Nato egal. Leistungen unter diesem englischen Begriff umfassen zum Beispiel die Bereitstellung von sicheren Rastplätzen oder Energie und Kommunikationskanälen für alliierte Kräfte. „Es kann auch sein, dass wir ein Kreiskrankenhaus räumen müssen.“
Giss betonte, der Bündnisfall sei nicht gleichbedeutend mit Krieg auf deutschem Boden. Wenn ein Nato-Mitglied an der Ostflanke angegriffen werde, herrsche womöglich „noch Frieden“ in Deutschland, trotzdem werde das Land mit seiner strategischen Lage damit automatisch zur Drehscheibe für Truppenbewegungen in Europa. Deutschland müsse Sicherstellungsleistungen im Rahmen der Nato erbringen, zusätzlich sei mit Schläfern, Aufrührern und Drohnenangriffen im Inland zu rechnen.
Mahnung aus dem Innenministerium: Abläufe üben, Checklisten machen
Viele lobende Worte fand Karin Scheiffele, Leiterin der Abteilung Bevölkerungsschutz und Krisenmanagement im Stuttgarter Innenministerium, für die Vertreter der Blaulichtorganisationen. Baden-Württemberg sei „wirklich schon gut aufgestellt, weil Menschen ihre Rolle ernst nehmen und sich bereits vernetzt haben“. Sie mahnte jedoch, es müsse Schluss sein mit der Gemütlichkeit im Denken.
„Wir müssen unsere Organisationseinheiten dafür sensibilisieren, dass da was kommt.“ Und dann könne man eben nicht mehr freitags um 12 Uhr „den Griffel fallen lassen“ als Mitarbeiter einer Gemeindeverwaltung, weil die Frau zuhause mit dem Essen warte. „Wir können nicht nichts tun.“ Konkret appellierte sie an die Teilnehmer, Abläufe zu üben und sich Fragen zu stellen wie: „Habe ich die wichtigen Telefonnummern auch ausgedruckt in der Schublade, falls der Strom ausfällt?“
Dr. Stefan Weiß, Leitender Notarztkoordinator im Landkreis Ludwigsburg, sagte, auch die Konzepte für den sogenannten Massenanfall von Verletzten (MANV) müssten angepasst werden. Das bisherige Szenario gehe noch von einem räumlich begrenzten Ereignis mit etwa 50 Verletzten aus. Im Bündnisfall rechnet die Nato mit einem kontinuierlichen Zustrom Verwundeter und plant mit 1000 Kriegsverletzten täglich, die im deutschen Gesundheitssystem versorgt werden müssen. „Was bedeutet das für die Krankenhäuser und die Rettungsdienste?“, fragte Weiß. Es sei nötig, die Konzepte „jetzt“ anzupassen. „Jeder Schritt in die richtige Richtung ist wichtig.“

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