Wertvolle Sozialarbeit und virtuose Tanzkunst
Amigos Workshop-Präsentation "Be water, my friend" und Kawaguchis "ToTentanz" beim Festival im Komödienhaus

Breakdance und HipHop sind keine reine Männersache. Die schwedische Tänzerin Anna Holmström hat − mit Wurzeln in rhythmischer Sportgymnastik, klassischen und zeitgenössischen Tanztechniken − verschiedene Breakdance-Wettbewerbe gewonnen. Ihr Solo "ToTentanz", choreo-graphiert von Yui Kawaguchi, verschlägt selbst Profis die Sprache.
Zu erleben sind diese 20 Minuten virtuoser Tanzkunst im Komödienhaus beim Festival "Tanz! Heilbronn". Unter einem Objekt aus Lichtstäben, das ein Mobile, aber auch eine Riesenspinne sein könnte, liegt die Tänzerin. Der Rest der Bühne ist leer und dunkel. Aus Babygebrabbel und diffusen Geräuschen kristallisiert sich die Stimme von Eltern − "I love you" −, der vorsprachliche Versuche folgen, das Gehörte zu imitieren.
Cybermobbing Techno-Lärm bricht in den geschützten Raum des Säuglings. Holmström kommt auf die Beine und bewegt sich mechanisch. Aus ersten, wie ferngesteuerten Schritten, entwickelt sich eine Apotheose der Beweglichkeit, die ihresgleichen sucht. Schon früh war sie beim Training mit unvereinbaren Ansprüchen konfrontiert: "Du solltest stark sein, aber nichts essen, Persönlichkeit zeigen, aber nicht widersprechen", so Holmström beim Publikumsgespräch im Foyer.
Diesem von Hochleistungsgedanken und Widersprüchen geprägten Körper, dessen dynamische Explosivkraft bei zugleich lyrischer Subtilität dem Zuschauer den Atem raubt, diesem Körper von katzenhafter Geschmeidigkeit hat die Japanerin Yui Kawaguchi ihre Choreographie gewidmet. Die in Berlin lebende Japanerin setzt sich in "ToTentanz" mit Cybermobbing auseinander: "Auf der Straße sah ich Menschen mit Smartphone, Tablet und dergleichen." In welchem Zustand ist die Gesellschaft, habe sie sich gefragt. Und ihr kam der mittelalterliche Totentanz in den Sinn. Bei den Totentanz-Abbildungen wird jeder Mensch von einem Skelett begleitet, der Tod in Zeiten von Pest und Cholera als ständiger Begleiter. So wie die ständige Erreichbarkeit via Internet, die uns heute begleitet.
Toncollage "Cybermobbing ist die Pest des 21. Jahrhunderts", ist Kawaguchi überzeugt. Den Ausschlag für das Stück hat der Fall Amanda Todd gegeben. Von einem Cyber-Stalker in den Tod getrieben, war die letzte Botschaft der 15-Jährigen: "I need somebody, but I have nobody!" ("Ich brauche jemand, aber ich habe niemand!"). Die Stadien des Aufbäumens gegen eine im Wortsinn unfassbar bedrohliche Welt, die Vergeblichkeit jeglicher Abwehr und die niederschmetternde Einsamkeit verkörpert die Tänzerin mit grandiosem Verwandlungspotenzial zu faszinierenden Lichtwechseln (Fabian Bleisch) und einer Toncollage (Sibin Vassilev) mit "La danse Macabre" (Camille Saint-Saëns).
Der zweite Teil des Abends wird von einer Gruppe junger Männer bestritten. Angeleitet vom Breakdance-Weltmeister und Choreographen Kadir "Amigo" Memis und unterstützt von der Live-Musik des Klarinettisten, Schlagzeugers und Soundmixers Milian Vogel, präsentieren sie Arbeitsergebnisse eines zweimonatigen Workshops.
Allesamt Flüchtlinge im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, die erst seit kurzem in Heilbronn leben, haben die Jungs Spaß auf der Bühne, interagieren mit Klebeband und Plastikflaschen, zeigen, was in einer Zwölfer-Gruppe an choreographischen Mustern möglich ist − und exponieren sich vereinzelt mit Breakdance-Moves. Ursprünglich hatte Memis ein Stück zum Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes machen wollen. Was bedeutet Würde? Gibt es diese Formulierung in den Gesetzen der Türkei, Syriens, im arabischen Kulturkreis?
Wie unterscheidet sich Würde von Ehre oder Respekt? Der Anspruch zu hoch, der Begriff zu abstrakt, findet Memis Wasser als Metapher, denn: "Wasser ist so notwendig wie Würde", sagt er. Und nennt das Stück frei nach Bruce Lee "Be water, my friend".
Eine sinnvolle Sozialarbeit. Warum im Theater? Solange diese Art integrativer Kurse Einzelfälle bleiben, statt auf breiter Basis in Schulen, Kultur- und Freizeitzentren Einzug zu halten, mangelt es unserer Gesellschaft am Selbstverständlichen: an Tanz und Bewegung.
"Tanz! Heilbronn"
Die Vorstellungen der Compagnie Marie Chouinard am Samstag und von Joeri Dubbe am Sonntag sind ausverkauft. Karten gibt es für die Produktion "Minorities" von Yang Zhen (China) am Sonntag, 17 Uhr, im Komödienhaus. Eine Open-Air-Performance bei freiem Eintritt gibt es am Samstag, 17.30 Uhr, um 18.30 Uhr sowie am Sonntag um 16.30 Uhr am Bollwerksturm mit einer Gruppe tanzbegeisterter Laien, die sich 2015 während des Festivals zusammengefunden hatte und seither trainiert.