Die Erinnerung wachhalten
Zeitzeugin der Judenverfolgung berichtet aus ihrem Leben

Leingarten - Spannend und engagiert erzählt Rachel Dror vor rund 100 Zuhörern im Leingartener Martin-Luther-Gemeindehaus ihre Lebensgeschichte. Die Frau aus Stuttgart-Weilimdorf ist Zeitzeugin der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Ihren Vortrag leitete die rüstige 87-Jährige mit den Worten ein: „Jeder Mensch ist selbst verantwortlich für das, was er tut, unabhängig von seiner Religion, seiner Herkunft oder seiner politischen Einstellung.“
Königsberg, Hamburg, Haifa, Stuttgart: Das waren die wichtigsten Stationen im bewegten und bewegenden Leben der gebürtigen Ostpreußin. Die Kindheit und frühe Jugend war unbelastet. Bis zu jenem 31. März 1933. An diesem Tag untersagte ihr die Mutter den Besuch der Familie, die ein Stockwerk höher wohnte. Der Kontakt zu Nichtjuden sei von nun an verboten, bekam die damals Zwölfjährige zur Antwort. Es folgte die Ausgrenzung in der Schule, der Schulwechsel, schließlich die Weigerung, am Unterricht einer Lehrerin teilzunehmen, die ihren Ärger an jüdischen Kindern ausließ.
Ausbildung 1935 begann Rachel Dror mit einer Schneiderausbildung, die sie nach eineinhalb Jahren wegen einer schweren Lungenentzündung abbrechen musste. Als der erste Freund interniert wurde, packte die junge Frau die Koffer und zog zu einer Tante nach Hamburg.
Von den schrecklichen Ereignissen der „Reichskristallnacht“, am 9. November 1938, hatte die 17-Jährige erst am nächsten Tag erfahren. Ihr Vater, der als Offizier im Ersten Weltkrieg gedient und zahlreiche Verdienstorden erhalten hatte, wurde schwer misshandelt, die Wohnung verwüstet. Mit dem letzten legalen Schiff flüchtete Rachel 1939 von Triest aus nach Palästina. Dort besuchte sie eine landwirtschaftliche Schule.
Ihre Eltern lebten bis 1944 in Italien, wo sie vom deutschen Militär aufgestöbert, ins KZ nach Auschwitz gebracht und getötet wurden. Auch 87 weitere Verwandte wurden von den Nazis umgebracht.
Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 trat Rachel Dror in Haifa in den Polizeidienst ein und übernahm den Verkehrsunterricht in 25 Schulen. Neun Jahre später kehrte sie, inzwischen verheiratet und Mutter einer Tochter, nach Deutschland zurück.
Lehrerin Nach einer Banktätigkeit begann die mittlerweile 46-Jährige mit einem Studium, war danach fast zwei Jahrzehnte lang als Lehrerin an einer Sprachheilschule tätig. Seit 30 Jahren erzählt sie nun ihre deutsch-jüdische Geschichte, ohne anklagend den Zeigefinger zu erheben. Um die Erinnerungen wach zu halten, hält es Rachel Dror für besonders wichtig, dass der Personenkreis über die damaligen Geschehnisse berichtet, der ihn am eigenen Leib erfahren hat. Ihr Appell an die Jugend lautet: „Nicht pauschal über Menschen reden, die Sie nicht kennen.“ Und sie niemals vorschnell beurteilen oder verurteilen.
Stärke Sie habe wohl eine besondere Stärke vom Herrgott bekommen, um dies alles erzählen zu können, meinte eine Besucherin der von den christlichen Kirchen organisierten Veranstaltung. „Es gibt Schlimmeres als das, was ich durchgemacht habe“, erwiderte die Referentin.
Vor dem mit traditioneller jiddischer Musik untermalten Vortrag wurde unter der Leitung des Pastoralreferenten Winfried Bentele von der katholischen Seelsorgeeinheit Leintal der jüdische Friedhof in Schluchtern besucht. Dabei wurde auch das Totengebet von Maurice Ravel gesungen.